Der Vinschgau liegt zwischen Zürich und Venedig
Mitgliederversammlung im Meraner Kurmittelhaus mit Roselinde Gunsch Koch, Sepp Noggler, Georg Fallet, Paul Stopper und Erwin Bundi (von links).

Mit der Vinschgerbahn ans europäische Bahnnetz

Publiziert in 21 / 2010 - Erschienen am 3. Juni 2010
Der Kanton Graubünden will seine entlegenen Talschaften erschließen und nicht im wirtschaftlichen Abseits stehen. Dazu braucht es Verkehrsverbindungen und die sucht die Kantonalregierung zum Großraum Zürich, zur Lombardei und in den Nordosten Italiens. Der Vinschgau und die Vinschgerbahn spielen in diesen Visionen und Plänen eine Schlüsselrolle. von Günther Schöpf Nur der Schauplatz war derselbe, aber die Vorzeichen unterschieden sich wesentlich. Um 1900 jagte im Kurmittelhaus in ­Meran eine Sitzung die nächste. Bozner und Meraner Kaufleute drängten auf die Bahnverbindung in den Vinschgau. Um 2010 drängten nicht die Meraner, die ­waren nur wenige Minuten durch Bürger­meister Günther Januth im Stichwahl­fieber vertreten, sondern eine kleine Gruppe von Experten, Politikern und Gönnern aus Graubünden und dem Vinschgau. Es war die 1. Mitgliederversammlung, die das am 26. Mai 2009 in Scoul gegründeten Aktions­komitees (AK) „Bahnverbindung Engadin–Vinschgau“ in Meran abhielt. Dem Jahrestreffen vorausgegangen war am Vormittag die erste Begegnung mit Süd­tiroler Medien. Bernhard Cathomas, ehemaliger Direktor­ von Radio + Televisiun ­Rumantscha, hatte in das ­Thema eingeführt und dabei weit in die Geschichte zurück gegriffen. Er erinnerte in seinem Referat an das Bahnprojekt Chur–Meran von 1869 und an die Ofenbergbahn als Bindeglied der Engadin-Orientbahn von 1895. Nach Vision Aktion Mit der Eröffnung der Vereina-Linie der Rhätischen Bahn 1999 und dem Neustart der Vinschgerbahn 2005 sei eine Bahnverbindung zwischen dem Engadin und dem Vinschgau deutlich aus der Visions- in die Realisationsphase getreten, meinte Landtagsabgeordneter Sepp Noggler, Stellvertreter des AK-Präsidenten Georg Fallet aus Müstair. Noggler ging auf die touristische Bedeutung der geplanten Bahnverbindung Engadin-Vinschgau ein und stellte das Aktionskomitee mit Vorstand, Projektausschuss und Arbeitsgruppen vor. Zudem erläuterte er den Stand der bisherigen Bemühungen und Planungen im Rahmen des Interreg-III A-Projekts „Öffentlicher Verkehr im Dreiländereck“ von Ende 2006, als im Auftrag des Kantons Graubünden und der Autonomen Provinz Bozen fünf Trassen – oder wie man in Graubünden sagt – fünf Linienführungen untersucht worden sind. „Inzwischen“ – so Noggler – „hat das Internationale Aktionskomitee im Sommer 2009 ein weiteres Interreg-Projekt in die Wege geleitet und über die Provinz Bozen und das Wirtschafts­forum Pro Engiadina Bassa Ende ­Oktober der zuständigen Behörde in ­Mailand zur ­Finanzierung eingereicht.“ Wie der Machbarkeitsstudie nach Interreg-III A zu entnehmen war, würde die Verbindung im günstigsten Falle 630 Millionen Euro verschlingen, in etwa so viel wie der Vereina Tunnel zwischen Klosters und Sagliains gekostet hatte. ­Zwischen den großen Transitprojekten Gotthard-Tunnel und Brennerbasis-Tunnel falle „der geschätzte Aufwand zur Schließung der Bahnlücke Engadin-Vinschgau verhältnismäßig und vertretbar aus“, schrieben die Verantwortlichen des AK in einer Aussendung. Konsensvariante gesucht Ziel des Interreg-IV-Projektes sei die „Erarbeitung einer einzigen Variante (Konsensvariante) … hinter der sowohl die Fachwelt, als auch die Bevölkerung der durchfahrenen Regionen stehen können“. Inhaltlich - so Paul Stopper, der Projektleiter im Amt für Energie und Verkehr Graubünden, Abteilung öffentlicher Verkehr - umfasse das Projekt neben der Eingrenzung des Untersuchungskorridors und der Reduktion der ursprünglichen fünf Varianten auf die Bestvariante auch die Zulassung neuer Varianten. Nur in Klammern tauchte in der Präsentation der Aspekt „Erschließung Val Müstair“ auf ­(siehe auch das Gespräch mit Großrat Georg Fallet). Auf 1.150.000 Euro wurden die Kosten für Interreg-IV berechnet. Davon entfallen 450.000 auf Italien (Südtirol) und 700.000 auf die Eidgenossenschaft, verteilt auf Bund, Kanton Graubünden und Eigenleistungen des Aktionskomitees. In bewährter eidgenössischer Manier, nach der weitreichende Entscheidungen dem Volk überlassen werden, wurde in der Machbarkeitsstudie von 2005/2006 keine Variante bevorzugt, da weder Fachleute, noch die Bevölkerung der betroffenen Regionen die Trassen diskutieren konnten. Trotzdem zeichnet sich ab, dass die Varianten S-chanf-Livigno-Valchava-Mals und Scuol–Nauders-Reschen-Mals unter die Eisenbahnräder kommen werden. Erstere wegen der Tunnellänge von 43 Kilometern, die zweite wegen der Eingriffe in die Landschaft. Den Arbeitsschritten des Projektantrages ist zu entnehmen, dass man derzeit das Augenmerk auf die Linienführungen Zernez (Unterengadin)-Valchava (Val Müstar)-Mals, von Scuol über Valchava­ nach Mals und die kürzeste Strecke von Scuol nach Mals (23 Kilometer) richtet. Politische Netzwerke Den Mitgliedern in Meran berichtete Großrat Fallet unter anderem von seinem „Auftrag“ an den Großen Rat, den er am 16. Februar 2010 eingereicht habe, ver­sehen mit 47 Unterschriften, darunter vieler Gemeindepräsidenten, und der am 12. Mai von Präsident Claudio Lardi mit dem Versprechen „grundsätzlich dem Interreg-IV-Projekt zuzustimmen“ beantwortet worden sei. Die Versammlung befasste sich auch mit Möglichkeiten, neue Mitglieder zu rekrutieren und politische Netzwerke zu schaffen, wie es AK-Präsident Fallet formulierte. Christoph Wallnöfer aus Taufers schlug vor, in allen Ortschaften Kontaktpersonen zu suchen, um das Thema Bahnverbindung unter die Leute zu bringen. Ingenieur Paul Stopper brachte es auf den Punkt und erinnerte an den Erfolg der Vinschgerbahn, als er meinte: „Erst wenn etwas da ist, das funktioniert, werden die Menschen es akzeptieren.“ Aufmunternd meldeten sich neben Walter Weiss aus Naturns auch der frühere Latscher Bürgermeister Franz Bauer und Senator Manfred Pinzger zu Wort. Pinzger deutete an, mit seinen Kollegen im Hotel-und Gastwirteverband über das Thema sprechen zu wollen. Vinschgau in der Champions League Sichtlich motivierend auf die Teilnehmer wirkte das Tagungsreferat des früheren Nestlé-Verkaufsleiters und dann Kur­direktors von St. Moritz, Hanspeter ­Danuser. Einfach und nachvollziehbar berichtete er von seinem ersten Schock, als er die periphere Lage des Wintersportortes St. Moritz begriff, vom Aufbruch durch den „Relaunch“ von Glacier- und Bernina-Express zwischen 1982 und 1984 und vom Aufbau der globalen Marke St. Moritz. Es klang schlicht, aber überzeugend, als er von seiner jüngsten Kreation, der „Gran Tour Venice-St. Moritz-Matterhorn“ berichtete und auf die vielen Weltkulturstätten mit Venedig, Dolomiten, St. Johann, Rhätischer Bahn und St. Moritz entlang der Strecke hinwies. Wörtlich sprach er von der „Champions League in Bildung und Kultur“ und überließ es den Teil­nehmern, sich den Vinschgau als entscheidendes Verbindungsstück vorzustellen: „die Gran Tour mit Venice-Meran-Mals-St. Moritz-Matterhorn“. Zwei Fragen an den Vorsitzenden des ­Aktionskomitees „Bahnverbindung ­Engadin-Vinschgau“, Großrat Georg Fallet aus Müstair. „Der Vinschger“: Herr Großrat, wie kann man das Münstertal an das Bahnnetz bringen, wenn die kürzeste und kostengünstigste Strecke von Scuol nach Mals führt? Georg Fallet: Wir werden uns natürlich einsetzen, dass wir nicht abseits bleiben. Aber die große Diskussion wird im Engadin zu führen sein. Wir müssen die Oberengadiner im Boot haben, wenn wir die Zustimmung der Bevölkerung brauchen. Ideal wäre für uns und das Engadin, wenn die Verbindung geradewegs vom Vereina-Tunnel durchs Münstertal nach Mals ­führen würde. Welches Gewicht hat das Argument, ein peripheres Gebiet zu erschließen? Georg Fallet: Ich denk, es ist ein zusätzliches politisches Argument, wenn eine ganze Talschaft erschlossen wird. Und wir Münstertaler hoffen schon auf Südtiroler Unterstützung, denn mit unserer ­Variante wäre auch die Gemeinde Taufers im Mittel­punkt einer touristischen und wirtschaftlichen Entwicklung.
Günther Schöpf
Günther Schöpf
Vinschger Sonderausgabe

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