Mit Kobis und Vieh übers Joch
Als der Handel mit dem Veltlin noch blühte
Walter Rungg bedauert, dass die Handelstätigkeit zwischen dem Vinschgau und dem Veltlin stark eingebrochen ist.
Auf der Terrasse des Gasthauses „Weißer Knott“ (v.l.): Alfred Thöni, Sabine Semmler, Gaby Salatino, Walter Rungg und Helmut Gruber
„Wenn ich heute mit Vieh über das Joch fahre, ist das für mich wie ein freier Tag“, sagt Oswald Riedl aus Lichtenberg.

„Nur eine Hetz war es nicht“

Walter Rungg und Oswald Riedl brachten jahrzehntelang Gemüse, Vieh und andere Produkte aus dem Vinschgau über das Stilfserjoch.

Publiziert in 19 / 2021 - Erschienen am 27. Mai 2021

Prad/Stilfserjoch - Äpfel, Birnen, Kobis (Weißkohl), Ferkel, Kälber, selbstgeräucherten Speck und später auch Karfiol und andere Erzeugnisse. Die Palette der Waren, die in früheren Zeiten vom Vinschgau über das Stilfserjoch nach Bormio und in weitere Orte des oberen Veltlins gebracht wurden, ist vielfältig. Zu den „historischen“ Händlern, die über viele Jahrzehnte hinweg bei fast jedem Wetter und Unwetter Qualitätsprodukte aus dem Vinschgau ins Veltin brachten, gehören Walter Rungg aus Prad und Oswald Riedl aus Lichtenberg.

Treffpunkt „Weißer Knott“ 

„Ja, auch hier bin ich früher manchmal eingekehrt“, schmunzelte Walter Rungg, als wir ihn am 6. Mai im Gasthaus „Weißer Knott“ trafen. Er lässt sich von der Chefin und Köchin Gaby Salatino, die das Gasthaus (1.875 Höhenmeter) seit 3 Jahren führt und den Laden zusammen mit der Kellnerin Sabine Semmler schmeißt, ein Glas Rotwein einschenken. Mit am Tisch sitzen der frühere Straßendienstmitarbeiter Alfred Thöni aus Trafoi, dem das Gasthaus früher gehörte und der es auch lange Zeit führte, sowie Helmut Gruber von der Unteren Tartscher Alm in Trafoi. Alfred Thöni erinnert sich noch gut an so manche Tage, als er abends auf die Rückkehr von Walter wartete, weil er ihn am Morgen beim Hinauffahren gesehen hatte: „Alle kannten den Walter und sein Fahrzeug“. Ab und zu kam es auch vor, dass der Wanderhändler erst ziemlich spät auftauchte. Schuld daran war nicht immer das Wetter, sondern manchmal auch ein oder mehrere „Karter“ auf der „Franzenshöhe“.

Um 3.30 Uhr ging es los

„Es ging zwar oft lustig her, aber nur eine Hetz war das Ganze nicht“, blickt Walter Rungg, Jahrgang 1933, zurück. Das erste Mal mit dem eigenen Fahrzeug über das Joch gefahren ist er 1963. Er hatte sich einen VW-Pritschenwagen zugelegt, um die Warnen nach Bormio zu transportieren. In der Regel ging es einmal wöchentlich über das Joch, vornehmlich im Sommer und Herbst. Am Abend vor den Fahrten wurden die Produkte auf den mit Wänden ausgestatteten Pritschenwagen geladen und mit einer Plane zudeckt. Walter: „Losgefahren bin ich dann immer gegen 3.30 Uhr, denn gegen 7 Uhr musste ich in Bormio sein.“ Im Hauptort des oberen Veltlins und in vielen weiteren Orten der Umgebung warteten viele Kunden oft schon hart und ungeduldig auf die Waren. Walter fuhr mit seinem Fahrzeug von Ort zu Ort, von Haus zu Haus. Alle kannten ihn. Auf die Frage, ob das auch heute noch so sei, wenn er übers Joch fahre, meint Walter: „Wenn sie mir olle wegsterbm.“ Viele, die der bald 88-Jährige kannte, sind nicht mehr am Leben. Seit Sohn Christian hält an der Tradition des Vaters fest und fährt seit rund 15 Jahren regelmäßig nach Bormio.

Qualität war und ist gefragt

Nicht gerade redselig ist Walter Rungg, wenn man ihn danach fragt, ob sich der Handel wirtschaftlich gelohnt hat: „Ja, ja, etwas hat man schon verdient.“ Heutzutage sei der Handel fast gänzlich verschwunden. In früheren Zeiten, als es noch keine komplizierte Zettel- und Kassawirtschaft gab, war es viel einfacher, Handel zu betreiben und handelseins zu werden: „Es galt das Wort. Heute ist es damit vorbei.“ Das ganze Geheimnis des bescheidenen Erfolgs war und sei immer noch die Qualität der Produkte: „Auf die ersten Erdäpfel, die wir zu Hause ernteten, waren meine Kunden immer besonders scharf“, erinnert sich Walter. Aber auch Äpfel, Birnen, Kobis und andere Produkte waren gefragt. „Eben alles, was wir hier nicht gebraucht haben“, blinzelt es aus den verschmitzten Händleraugen. Auch Schweine hat Walter einst gezüchtet und so manche Brut übers Joch nach Bormio transportiert. Dass das Wetter auf dem Joch von einer Stunde auf die andere umschlagen kann, weiß Walter Rungg nur zu gut. Vor etlichen Jahren kehrte er mit ein paar Kälbern von Bormio zurück. Schon vor der Passhöhe musste er die Schneeketten montieren. Finanzbeamte, denen er ebenfalls kein Unbekannter war, rieten ihm, über den Umbrail-Pass und Taufers im Münstertal heimzufahren. Dass die Kälber bei der Grenzüberfahrt von der Schweiz in den Vinschgau keinen Mucks machten, freut ihn noch heute. Hätte man ihn angehalten, wären die Tiere wohl beschlagnahmt worden. Der Handel zwischen dem Vinschgau und dem Veltlin blühte früher nicht nur einseitig, sondern auch umgekehrt: Bauern und Händler kamen von Bormio und anderen Orten mit eigenem „guten Zeug“ in den Vinschgau. Sie waren auf Märkten präsent, boten Vieh, Butter, Käse und andere Produkte und Waren feil. Was nicht alle wissen: in Bormio und Umgebung gibt es gute Almen mit ausgedehnten Weideflächen. „Alle Gegenden haben ihr eigenen Spezialitäten“, wirft Alfred Thöni ein. „Für die Bresaola aus dem Veltlin gilt das genauso wie für den Speck, wie ihn unsere Bauern früher selbst herstellten.“

4 Stück Vieh pro Fahrt

Oswald Riedl, Jahrgang 1947, vom Ondrele-Hof in Lichtenberg, den wir am 13. Mai in der „Gumser Bar“ zu einem Gespräch trafen, hat vor über 50 Jahren angefangen, Vieh aus dem Vinschgau über das Joch in das Veltlin zu transportieren und dort zu verkaufen. Zu Beginn hatte er einen Lieferwagen des Typs „Cerbiatto“, auf den 4 Stück Vieh aufgeladen werden konnten. „Ich brachte pro Woche zwischen 20 und 30 Stück nach Bormio und in andere Orte“, erinnert sich Oswald. Zu Blütezeiten des Viehhandels fuhr er vor allem in den Herbstmonaten fast täglich übers Joch. Nachdem der „Cerbiatto“ zu klein geworden war, folgte ein Lieferwagen, in dem 10 Stück Platz hatten und später sogar zweistöckige Fahrzeuge. Bei den Kleinbauern in Bormio, Grosio, in der Valfurva sowie in den Dörfern in der Gegend von Sondrio und Tirano und vielen weiteren Orten im Veltlin war das im Vinschgau gezüchtete Vieh sehr gefragt und geschätzt. „Vor allem Braunvieh“, erzählt Oswald. Über 50 Jahre lang hat er Kühe, Kälber, Pferde und zum Teil auch Schweine über das Joch gebracht. Das Vieh stammte zum Teil aus der eigenen Aufzucht und zum Teil von Bauern aus dem ganzen Vinschgau.

„Keine Lira verloren und keine Strafe bekommen“

Fast unglaublich klingt, dass er in all den Jahren „nie eine Lira oder einen Euro verloren hat oder eine Strafe bekam.“ Seine Kunden hätten zwar oft lange gefeilscht und gehandelt, „aber wenn wir einmal handelseins wurden, was manchmal erst nach einem oder zwei Litern Wein geschah, gaben wir uns die Hand und das Geschäft war besiegelt.“ Auch Oswald Riedl bestätigt, dass das Wort früher mehr galt als irgendwelche Dokumente. Bezahlt wurde übrigens immer mit Bargeld. Viele Kunden, die für ihre kleinen Bauerschaften Vieh aus dem Vinschgau kauften, waren Grenzpendler, die in der benachbarten Schweiz arbeiteten und somit Geld hatten. Mit den Kunden jenseits des Jochs, den Tierärzten und auch mit den Finanzern sei er stets gut ausgekommen. Auch an einige feuchtfröhliche Tage und Nächte, die er bei Freunden und Kunden im Veltin verbrachte, erinnert sich Oswald gerne zurück. Nicht selten dauerten so manche Rückfahrten auch deshalb etwas länger, weil er mit seinem „Kumpan“ Walter Rungg auf der „Franzenshöhe“ oder beim „Weißn Knott“ einkehrte. Ein bisschen stolz ist Oswald darauf, „dass ich in all den Jahren nie einen Unfall hatte.“ Und das trotz aller möglichen und unmöglichen Wetterverhältnisse. Apropos Wetter: wenn es bei der Rückfahrt schneite, montierte Oswald vor der Passhöhe die Schneeketten und beschwerte den „Cerbiatto“ mit Steinen, die er dann in Trafoi in den Bach warf.

Geld unter Kuhfladen versteckt

Bauernschläue war nicht nur beim Handeln gefragt, sondern auch im Umgang mit Kontrollen. Wenn Oswald mit dem leeren Fahrzeug über Livigno heimfuhr, versteckte er das Geld unter einem der Kuhfladen auf der Ladefläche des Lieferwagens. Niemand sei auf die Idee gekommen, unter einem „Toascht“ nachzusehen, „die Geldtasche aber wurde kontrolliert.“ Das beste Geschäft, das er jemals gemacht hat, war der Verkauf einer Jungkuh aus dem eigenen Stall in den 1980er Jahren. 7 Millionen Lire zahlte ihm Agostino Franzini aus Grosio für diese Kuh. Franzini ist übrigens am vergangenen 3. April gestorben. Oswald Riedl fuhr am 5. April zu seiner Beerdigung nach Grosio. Das ist nur ein Beispiel vieler persönlicher Freundschaften, die Oswald - und auch Walter - mit vielen Menschen im Veltlin geschlossen haben. Auch Oswald bedauert, dass viele alte Bekannte und Freunde mittlerweile gestorben sind. „Wenn ich jetzt über das Joch fahre und manchmal noch ein paar Stück Vieh mitnehme, ist das für mich wie ein freier Tag“, sagt er mit etwas Wehmut in der Stimme. Auch er bedauert, dass die Handelstätigkeit zwischen dem Vinschgau und dem Veltlin mittlerweile stark eingebrochen ist. Walter und Oswald darf man in diesem Sinn als die letzten Mohikaner dieser Handelstätigkeit bezeichnen. Nicht müde werden beide, die Vorzüge des Veltlins und der dortigen Menschen hervorzuheben, angefangen bei der guten Küche und der Gastfreundschaft bis hin zur Handschlagqualität.

Der „Pferdehändler“ aus Schluderns

Allein mit den Anekdoten aus dem „Händlerleben“ von Oswald ließe sich ein Büchlein füllen. Noch lebendig vor sich sieht er einen Freund aus Schluderns, der einst mit ihm nach Bormio gefahren war, um ein Pferd zu verkaufen. Oswald ließ den Schludernser, der kein Wort Italienisch sprach, mit einem potentiellen Käufer in einem Gasthaus zurück, um die Kühe, die er ebenfalls mitgenommen hatte, zu den Kunden zu bringen. Als er einige Stunden später in das Gasthaus zurückkam, war eine lauthalse Diskussion im Gang. Der angeheiterte Schludernser verlangte 1,3 Millionen Lire für das Pferd. Sein Gegenüber - ebenfalls in etwas angeregter Verfassung - beteuerte in seiner Sprache, dass er nicht mehr als 1,6 Millionen Lire zu zahlen bereit sei. Oswald gelang es, das Missverständnis alsbald auszuräumen. Zurückgelassen hat der Schludernser das Pferd am Ende für 1,6 Millionen Lire. Ein ganzes Buch schreiben könnte man darüber, was Oswald aus seiner Zeit als Schmuggler zu erzählen weiß. Aber das ist eine andere Geschichte.

Josef Laner
Josef Laner

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