Prad und die Straße übers Joch
Blick auf gestern, heute und morgen.
Prad am Stjilfserjoch - Die Straße auf das Stilfserjoch ist ein bisschen wie eine Schatzkiste, die im Dachboden dahinschlummert. Man weiß zwar, dass sie da ist, wagt sich aber nicht so recht an den Inhalt. Wie einzigartig und wertvoll dieser „Schatz“ aber für Prad und die gesamte Region ist, und welche Bemühungen unternommen werden sollen, um ihn „auszupacken“, zeigte sich am Freitag bei einem sehr gut besuchten Vortrags- und Diskussionsabend im Nationalparkhaus in Prad. Angeregt hatte den Abend der aus Prad gebürtige Ingenieur und Professor Gert Karner. Die Organisation hatten der Tourismusverein und der Bildungsausschuss übernommen.
Spannende Baugeschichte
Gert Karner führte einleitend in die Entstehung prähistorischer Saumwege und alpenquerender Handels- und Militärstraßen zur Römerzeit ein. Im Dreißigjährigen Krieg wurde das Stilfserjoch mehrfach vom Militär genutzt.1632 zogen zum Beispiel mailändische Truppen über das Joch, um dem österreichischen Erzherzog Leopold beizustehen. Auch über das Wormser Joch (Umbrailpass) zogen Heereseinheiten. Bestrebungen für die Errichtung einer Handelsstraße über das Wormser Joch bzw. das Stilfserjoch scheiterten am Neid der Engadiner. Diese befürchteten nämlich, dass der bisherige durch das Engadin führende Handelsverkehr zum Reschen abgelenkt werden könnte. 1808 schloss Bayern mit italienischen Gebieten einen Handelsvertrag ab und es kam erneut zu Studien zum Bau einer von Bormio nach Norden führenden Passstraße. Neben dem Fraèlepass und dem Wormser Joch betrafen sie vor allem das Stilfserjoch.
Militärische Zwecke
„Tatsächlich errichtet wurde die Passstraße aus militärischen Zwecken“, führte Arthur Gfrei aus, langjähriger Hotelier auf dem Stilfserjoch. Gfrei befasst sich schon seit etlichen Jahren mit großer Leidenschaft und Akribie mit der Baugeschichte der Passstraße. Er hat in den Staatsarchiven in Wien und Mailand gestöbert sowie in Archiven in Bozen und Schlanders. Tausende von Dokumenten und Planungsunterlagen hat Gfrei gesichtet, zum Teil transkribiert und geordnet. Dass er bei seinem Vortag nur auf einen kleinen Bruchteil der gesammelten Dokumente eingehen konnte, liegt auf der Hand. Aber schon dieser Bruchteil, der sich im Wesentlichen auf die Planung und den Bau der Straße mit besonderem Schwerpunkt auf die Ereignisse in Prad und Umgebung bezog, ließ die Zuhörer aufhorchen, weil die meisten von ihnen viele interessante Begebenheiten zum ersten Mal vernahmen.
Technisches Meisterwerk
Erbaut wurde die Straße vom österreichischen Kaiserreich unter der Leitung von Carlo Donegani (1775–1845). Ziel war es, die Lombardei, die damals zum Kaiserreich Österreich gehörte, schnellstmöglich mit den anderen Reichsteilen zu verbinden. Gfrei: „Die Österreicher befürchteten einen Einfall der Franzosen.“ Die Versteigerung der Arbeiten gewann die „Società Noli-Poli-Talacchini“ mit einem Abschlag von 20,725% auf den Versteigerungspreis in Höhe von 1.091.113,10 italienische Lira. Zum verpflichtete sich die Firmengruppe, die Straße 9 Jahre lang für einen Gesamtbetrag von 14.000 Lire zu erhalten. Die Arbeiten haben am 19. Mai 1823 in der Schmelz in Prad begonnen. Bereits am 29. Juli 1824 fuhren die ersten Beamten über das Joch. Die ersten Überfahrten erfolgten also nach nur 8,5 Monaten effektiver Bauzeit.
Sehr kurze Bauzeit
Es standen teilweise bis zu 1.500 Arbeiter, zum Großteil aus dem italienischen Ram, im Einsatz. Was sie geleistet haben, veranschaulichen schon allein zwei Zahlen: Es waren 200.000 Kubikmeter Aushubarbeiten vorgesehen und fast 100.000 Kubikmeter an Trockenmauern. Auch auf Probleme und besondere Begebenheiten während der Arbeiten ging Gfrei ein. So wurde etwa auf Druck des Klerus eine Bestimmung erlassen, wonach „Weibsbilder abzuschaffen“ seien, um „Unsittlichkeiten“ unter den „Straßenarbeitsleuten“ vorzubeugen. Auch über Entschädigungsforderungen seitens von Prader Bürgern informierte Gfrei, über Widerstände der Bevölkerung und die Tatsache, dass Donegani ursprünglich nicht 48, sondern 61 Kehren geplant hatte. Vielen nicht bekannt war auch der Umstand, dass Donegani nach dem Bau der Straße auch Skizzen für die Errichtung von Tunnels durch das Stilfserjoch entwarf.
Die Anfänge des Tourismus
Aufbauend auf die Baugeschichte der Straße schlug Gert Karner eine Brücke von den Anfängen des Tourismus im Ortlergebiet, dem Besuch großer Persönlichkeiten wie Stefan Zweig, Arthur Schnitzler und Sigmund Freud, vom Bau von Hotels, dem Ersten Weltkrieg und dessen Folgen bis hin zum Wiederaufbau, der Veranstaltung von Autorennen auf das Joch, der Blütezeit des Sommerskilaufs mit bis zu 350 Skilehrern und der Entdeckung des Jochs für den Giro d’Italia. „Heute wird die Straße im Wesentlichen zum Vergnügen befahren“, sagte Karner. Autofahrer genießen die Straße ebenso wie Motorrad- und Fahrradfahrer. Als neuestes „Kind“ sei nun erfreulicherweise der „Stilfserjoch Stelvio Marathon“ dazugekommen, der am 16. Juni 2018 seine zweite Ausgabe erlebt.
Aufwertung im Visier
Über zum Teil bereits getroffene sowie noch geplante Maßnahmen zur Aufwertung der Straße von Spondinig bis zur Passhöhe informierte Architekt Arnold Gapp. Er gehört zusammen mit Kurt Sagmeister (Vinschgau Marketing), Stephan Gander aus Trafoi und weiteren Personen einer Arbeitsgruppe an, die sich mit einer touristischen und gesamtwirtschaftlichen Aufwertung der Passstraße, des Jochs und der weiteren Umgebung beschäftigt. Gapp erinnerte an den Bau des Kreisverkehrs in Spondinig, wo die Passstraße beginnt. Erste Maßnahmen für die Gestaltung der Festung Gomagoi als Service- und Ausstellungs-Gebäude sowie als Einfallstor zum Nationalpark wurden bereits umgesetzt. Gapp hofft, dass die Arbeiten bis zum Frühjahr 2019 abgeschlossen sind. Ab dem Frühjahr 2019 soll nämlich eine Eintrittsgebühr für die „Erlebniswelt Stilfserjoch“ eingehoben werden (Vignette). Auch über geplante Maßnahmen auf der Franzenshöhe sowie auf dem Joch selbst informierte Gapp. Eines der Hauptziele sei es, auf der Passhöhe für geordnete Verhältnisse zu sorgen, speziell was den Verkehrsfluss und die Parkplatzsituation betrifft. Gapp sprach sich zudem für den Bau eines Radweges von Spondinig bis Gomagoi aus, „zumindest bis Stilfser Brücke“. Als umsetzbar wertet er die Idee, die Straße eventuell einmal pro Woche nur einspurig befahren zu lassen, „sodass auf einer Straßenhälfte geparkt werden kann.“
Einmalige Chance
Laut Landesrat Richard Theiner ist die Aufwertung der Straße, des Jochs und des gesamten Gebietes im Zusammenhang mit den Gestaltungsmöglichkeiten zu sehen, die sich aufgrund der Übertragung der Nationalpark-Verwaltungskompetenzen an das Land ergeben haben. „Wir wollen eine Modellregion für ein nachhaltiges Leben in den Alpen schaffen“, so Theiner. Nicht unerwähnt ließ er die Tatsache, dass von 1998 bis 2017 ca. 26 Mio. Euro für den Erhalt der Passstraße ausgegeben wurden. Auch in Zukunft werden das Land und die Lombardei Geld in die Hand nehmen, „um die ganze Region aufzuwerten.“ Besonders wichtig sei es, die Leute vor Ort aktiv einzubinden und die Zusammenarbeit mit der Lombardei und der Schweiz, wo es ebenfalls Arbeitsgruppen gibt, weiter zu stärken.
Neue Gesellschaft
Besonders intensiv sei die Zusammenarbeit seit einiger Zeit mit der Lombardei. Wie Theiner ankündigte, „wird mit der Lombarbei eine neue Gesellschaft gegründet, die im Frühjahr 2018 mit der Umsetzung der Projekte zur Aufwertung der Nationalparkregion beginnen wird.“ Als eines der konkreten Projekte nannte der Landesrat die Schaffung überregionaler Höhenwege. Für die Umsetzung dieser und weiterer Projekte werde das Land Geldmittel bereitstellen, „und zwar schon im Finanzgesetz 2018.“ „Die Ziele der drei Arbeitsgruppen in Südtirol, in der Lombardei und in der Schweiz sind deckungsgleich“, sagte Stephan Gander. Es gehe darum, das Gebiet insgesamt aufzuwerten, auf einen Qualitätstourismus zu setzen und einen überregionalen Erlebnisraum zu schaffen. Neben den baulichen und strukturellen Eingriffen seien auch viele inhaltliche Maßnahmen und Angebote vorgesehen.
„Die Straße genießen“
Kurt Sagmeister sieht das wichtigste Ziel aller Bestrebungen darin, „die Gäste im Gebiet zu halten.“ Die Straße sollte weniger zum Durchpreschen dienen, sondern zum Genießen. Auch Hanspeter Gunsch vom Nationalpark äußerte sich in diesem Sinn. Bei der Diskussion, für die es im Anschluss an die Vorträge nur mehr wenig Zeit gab, wurden u.a. die zum Teil argen Verkehrsbelastungen in Prad angesprochen. Laut Bürgermeister Karl Bernhart wolle die Gemeinde zusätzlich zu den Speedboxen noch weitere Maßnahmen setzen, etwa die Errichtung von Mittelstreifen östlich der Ortseinfahrt. Bernhart kündigte außerdem an, den Kalkofen in der Schmelz zu einem Bergbaumuseum umgestalten zu wollen. Auch dieses Vorhaben sollte als Baustein zur Aufwertung der Passstraße gesehen und entsprechend gefördert werden. Der Stilfser Bürgermeister Hartwig Tschenett rief alle dazu auf, an der Aufwertung der Passstraße, des Jochs und des gesamten Gebietes mitzuarbeiten. Gert Karner regte abschließend an, die Bevölkerung rechtzeitig einzubinden: „Die Bürger wollen mitreden und nicht nur über bereits beschlossene Maßnahmen informiert werden.“
„Kein Straßentunnel“
Mit einer beruhigenden Nachricht wartete Theiner im Zusammenhang mit der von der Lombardei in Auftrag gegebenen Studie bezüglich eines „Tunnnels Lombardei-Vinschgau-Schweiz“ auf. Die Studie liege vor. Sie werde demnächst der Landesregierung in Bozen und der Regionalregierung in Mailand vorgestellt und anschließend daran der Bevölkerung im Obervinschgau und im Veltlin. Ein Straßentunnel werde nicht in Erwägung gezogen. „Für uns kam ein solcher ohnehin nie in Frage“, so Theiner.
