Psychisch krank, na und?
Im Bild (v.l.): Albin Kapeller, Roman Altstätter, Karin Tschurtschenthaler und Martin Achmüller.

Psychische Störungen können jeden treffen

Publiziert in 19 / 2015 - Erschienen am 20. Mai 2015
„Wichtig ist es, die Gefühle des Erkrankten wahrnehmen, diese sein lassen und nicht abstreiten.“ „Vor Jahren hatte ich Angst, durch das Dorf zu gehen.“ Man kann sie nicht sehen, aber dennoch ist sie da. Das merkt man vor allem dann, wenn sie aus dem Gleichgewicht kommt. Gemeint ist die menschliche Psyche, die nach dem Duden die „Gesamtheit des menschlichen Fühlens und Empfindens“ ist. Psychische Störungen sind heutzutage kein Einzelschicksal mehr. Fast jeder dritte Mensch leidet Schätzungen zufolge mindestens einmal im Leben daran. Das Verständnis und das Bewusstsein für eine psychische Erkrankung haben dazu geführt, dass sie früher erkannt, weniger tabuisiert und besser behandelt werden kann. der Vinschger hatte die Gelegenheit, ein Gespräch mit zwei „Menschen mit einer psychischen Erkrankung“ zu führen und lässt sie hier zu Wort kommen. An ihrer Seite saßen Karin Tschurtschen­thaler, Direktorin der Sozialdienste Vinschgau, und Roman Altstätter, Leiter einer Wohngemeinschaft und eines Treffpunkts für psychisch kranke Menschen. der Vinschger: Wie wichtig ist die Stimme der betroffenen Menschen in der Öffentlichkeit? Karin Tschurtschenthaler: In den Medien werden ständig Berichte von Psychiatern, Psychologen und Ärzten veröffentlicht. Ich finde es enorm wichtig, auch die andere Seite, die Betroffenen selbst zu Wort kommen zu lassen. Sie sind es, die den größten Teil ihrer Therapie von sich aus bewältigen. Sie sind uns als Kinderarzt und Referent des Katholischen Familienverbandes in guter Erinnerung. Sie waren für einige Jahre Vorstandsmitglied im Verband Angehöriger und Freunde psychisch kranker Menschen und sind selbst Betroffener. Martin Achmüller: Aufgrund meiner psychischen Erkrankung bin ich in Frührente gegangen. Ich sehe es heute als meine Aufgabe, auch als betroffener Familienangehöriger, zur Problematik Stellung zu nehmen, weil ich als Mediziner vielleicht glaubwürdiger bin und weil ich ausdrücken kann, was ich empfinde. Ich habe nur mehr funktioniert, habe keine Freude mehr erlebt. Ich kenne die tiefe Dunkelheit der Depression, hatte selbst Suizidgedanken und weiß, wie es ist, wenn man traurig und seelisch ganz weit unten ist und mit dem Leben nicht mehr zurechtkommt. Albin, ich habe Sie kürzlich beim Sympathielauf für das Krankenhaus Schlanders gesehen. Bedeutet das, dass es Ihnen besser geht? Albin Kapeller: Ich habe eine schlimme Zeit hinter mir, und seit ich in einer Wohngemeinschaft in Laas lebe und im Biologischen Gartenbau Latsch, dem Arbeitsrehabilitationsdienst, in Teilzeit arbeite, sehe ich einen Lichtblick. Was war geschehen? Albin Kapeller: Ich wollte nach der Matura in der Gewerbeoberschule auf die Uni, um Elektroingenieur zu werden. Das wurde mir zu viel; ich konnte den Stoff nicht mehr bewältigen. Später lebte ich allein in München und habe mich in Arbeit gestürzt, bis ich völlig blockiert und gefühllos war. Ich hatte ein Burnout. Ich betrieb Sport bis ins Extreme. Ich bin sogar mitten in der Nacht gelaufen, war total ausgepowert. Nach einem Aufenthalt im Krankenhaus litt ich weiterhin unter Blockaden und Panikattacken, später auch unter Verfolgungswahn; ich war depressiv und hatte Suizidgedanken. Martin Achmüller: Das ist typisch für Burnout: etwas ­Extremes tun, obwohl es über die eigenen Kräfte geht. Albin Kapeller: Jetzt laufe ich kürzere Strecken, dafür regel­mäßig. Ich mache Yoga, Turnübungen und ich schwimme gern. Was hat Ihnen noch geholfen? Albin Kapeller: Meine Familie hat mich aufgefangen. Auch der Aufenthalt in der psychiatrischen Abteilung hat mir gut getan; ich fühlte mich beschützt und aufgehoben. Heute kann ich mit meinen Betreuern reden, ihnen von meinen Problemen erzählen. Vor Jahren hatte ich Angst, durch das Dorf zu gehen. Ich habe mich zuhause eingesperrt. Meine Arbeit gibt mir Sicherheit im Umgang mit anderen Menschen. Im Gartenbau komme ich in Kontakt mit der Erde und bin in der Natur, das ist sehr hilfreich. Ich hätte nicht geglaubt, dass ich jemals wieder arbeiten kann, denn am Anfang wollte ich wieder aufgeben. Aber der Druck im Arbeitsrehabilitationsdienst ist geringer, ich muss nicht mehr leisten, als ich imstande bin. Wenn ich lachen kann, dann bricht innen etwas los bei mir. Das Gebet, die Ruhe und die Stille in einer Kirche geben mir ebenfalls Kraft und Hoffnung. Wie sollte sich die Gesellschaft den psychisch Erkrankten gegenüber verhalten, und wie nicht? Martin Achmüller: Wichtig ist es, die Gefühle des Erkrankten wahrnehmen, diese sein lassen und nicht abstreiten; Verständnis haben für die vielen schwer verständlichen Verhaltensweisen, Reaktionen oder Aussagen und zuhören, wenn der Betroffene reden möchte. Sehr schmerzhaft sind Sätze wie „du musst nur positiv denken“, „du musst gesund werden wollen“, „reiß dich zusammen“ oder „mir geht es gut, wenn es dir gut geht“. Diese Sätze entmutigen den seelisch Kranken, machen ihn noch hilfloser und tragen nicht zur Genesung der gebrochenen Seele bei. Wie funktioniert die Wiedereingliederung in den Strukturen? Es verlangt doch sehr viel Professionalität, zu fördern und nicht zu viel zu fordern? Roman Altstätter: Für uns Helfer ist es eine Herausforderung, die betroffenen Menschen zur Autonomie hinzuführen, ohne sie zu überfordern. Es gilt, die richtige Balance zwischen Begleitung und Selbständigkeit zu finden. Wichtig ist es, im wohlwollenden Austausch zu bleiben. Die begleitete Person muss lernen, ihren ausgetretenen Pfad zu verlassen und einen anderen Pfad zu gehen, damit ihr Leben wieder gelingen kann. Jede psychische Störung ist individuell, und jeder depressive Mensch hat seine Depression. Auf welchen Säulen stützt sich die Therapie von psychisch erkrankten Menschen? Martin Achmüller: Eine gelingende Therapie steht da wie ein stabiler Tisch auf vier Beinen: Psychopharmaka, Psychotherapie, Freizeitaktivität (Sport, Musik, Hobby, Selbsthilfegruppen…) und vor allem ein gutes Umfeld sind die vier wichtigsten Säulen, die zur Genesung beitragen können – jedes hat seine gewisse Dauer und seinen Anteil. Ich nehme seit 20 Jahren meine Medikamente, ich wollte manchmal damit aufhören oder sie reduzieren. Aber es kommen immer wieder belastende Momente, und da bin ich vorsichtig geworden. Was löst der Begriff „psychisch krank“ in der Gesellschaft aus? Ist das Wissen gering oder falsch geprägt? Roman Altstätter: Das Wissen über Formen und Dynamik ­psychischer Erkrankung ist erschreckend gering, klischeehaft und undifferenziert! Geprägt wird die Sichtweise z. B. von Thrillern, die sich besser verkaufen lassen, wenn die Protagonisten bizarre und extreme psychische Störungen aufweisen. Mit der Realität hat das aber nichts zu tun. Martin Achmüller: Burnout hingegen ist im Gegensatz zur Depression eine „ehrenwerte“ Erkrankung, denn das hat man ja nur, wenn man zu viel gearbeitet und geleistet hat. Dem Menschen mit einer Depression wird sehr leicht vorgeworfen, „er will nicht“. Die Erkrankung einer nahe stehenden Person beeinflusst auch das Leben der Angehörigen, denn die Familie ist ein Bestandteil im Entwicklungsprozess des Betroffenen. Wie sind ihre Erfahrungen im Verband und als Angehöriger? Martin Achmüller: Die Familie stellt eine zentrale Ressource in der Betreuung dar, es muss aber ihre Belastbarkeitsgrenze erkannt, anerkannt und respektiert werden. Auch die Angehörigen haben Bedürfnisse, um die man sich kümmern muss. Sie können um Arbeitsreduzierung ansuchen, Urlaubsangebote wahrnehmen und sich austauschen. Selbsthilfegruppen sind sehr hilfreich, wenn sie nicht nur Jammergruppen sind. Wo sehen Sie die Aufgabe der Politik und der Gesellschaft? Martin Achmüller: Es wird viel zu wenig getan für die Menschen mit psychischen Störungen. Die zuständigen Politiker sind zwar zuständig, aber nicht kompetent, entscheiden aber trotzdem, ohne Betroffene und Angehörige genügend mit einzubeziehen. Es geht schließlich um die Gesundheit und nicht um die Sanität, um den Menschen und nicht um Statistiken, um Lebensqualität und nicht um Bürokratie. Und nicht zu vergessen: über 90% der psychisch Erkrankten brauchen nicht Strukturen, sondern eine weit bessere ambulante Betreuung. Karin Tschurtschenthaler: Das Stigma „psychisch krank“ zieht sich durch die Arbeitswelt. Unsere Betreuten bekommen 3 Euro Taschengeld pro Stunde, sie sind jedoch nicht rentenversichert. Wenn sie krank sind oder einen Rückfall haben, bleibt dieses Geld aus. Roman Altstätter: Die Gesellschaft könnte finanzierbare Wohnungen bereitstellen, damit Menschen nach erfolgreicher Reha ihr Leben mit professioneller Unterstützung in eigenen Wohnungen gestalten können. Interview: Ingeborg Rechenmacher
Ingeborg Rainalter Rechenmacher
Ingeborg Rainalter Rechenmacher

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