Rückzug - Einengung - Suizid
Publiziert in 2 / 2003 - Erschienen am 30. Januar 2003
Vinschgau ist schon über Jahre trauriger Spitzenreiter in der Südtiroler Suizidstatistik. In Schlanders verübten im letzten Jahr zehn mal so viel Menschen Selbstmord wie im Landesdurchschnitt. Experten tun sich mit einer schlüssigen Erklärung schwer.
von Stefan Schwienbacher
Sechs Menschen haben sich im letzten Jahr in der Gemeinde Schlanders das Leben genommen. Das ist, verglichen mit der durchschnittlichen Suizidrate in Südtirol, ein beunruhigend hoher Wert. Trotzdem lässt sich nicht von einer Selbstmordwelle sprechen. Die Zahl der Suizidopfer allein würde diesen Begriff nahe legen.
Anders als bei jenen Selbstmordfällen in Prad im Jahre 1990, wo sich drei Jugendliche gemeinsam das Leben genommen haben und es in den verschiedensten Regionen Italiens daraufhin zu ähnlichen Fällen gekommen ist, besteht zwischen den einzelnen Selbstmordfällen in Schlanders kein innerer Zusammenhang. Wenn damals die mediale Berichterstattung und der durch sie ausgelöste Nachahmungseffekt für jene Welle verantwortlich gemacht wurde, so sind die Selbstmorde in Schlanders auf kein sie verbindendes äußeres Ereignis zurückzuführen. Das Phänomen einer Selbstmordwelle ist geschichtlich betrachtet nichts Neues und als Werther-Effekt längst beschrieben. Der Roman Goethes "Die Leiden des jungen Werther" löste nämlich nach seinem Erscheinen vor rund 200 Jahren eine ganze Reihe von Selbstmorden aus.
Die zwei Frauen und vier Männer in Schlanders waren jedoch Menschen mit einer völlig unterschiedlichen Lebensgeschichte, auf alle Altersgruppen verteilt und ohne erkennbare Verbindungen zueinander. Sie haben offensichtlich nur mehr diesen letzten und endgültigen Schritt als Ausweg für ein in immer engere Bahen verlaufendes Leben gesehen. Ein Schritt, der sich oft nahezu unbemerkt von der Außenwelt vollzieht, obwohl kaum ein Selbstmord oder Suizid, wie es in der Fachsprache heißt, ohne Vorankündigung geschieht.
Der Vinschgau gehört zusammen mit dem Eisack- und Pustertal zu den drei Gebieten, in denen sich jährlich auffallend mehr Menschen das Leben nehmen als anderswo in Südtirol. Warum das so ist, können offensichtlich auch die Experten nicht beantworten. Dazu ist das Ursachengeflecht viel zu komplex. „Allgemein lässt sich sagen,“ so Roger Pycha, Leiter der Psychiatrie Bruneck, „dass sich Männer drei mal so häufig das Leben nehmen wie Frauen, alte Menschen häufiger als junge Menschen. Besonders bei Menschen, die an ausgeprägten psychischen Störungen leiden, steigt das Risiko sprunghaft. Bei schweren Depressionen ist das Risiko an Suizid zu sterben 30- mal so hoch wie beim Durchschnitt der Bevölkerung, bei Schizophrenie sogar 40-mal und bei Alkoholismus 20-mal. Eine weitere Risikogruppe sind körperlich schwer Erkrankte ebenso wie Menschen, die auf Grund von Trennungen vereinsamt sind.
Roger Pycha arbeitet auch an einer vom Landesgesundheitsamt 1999 in Auftrag gegebenen Studie mit, die die Hintergründe und Lebensumstände von Suizidopfern in Südtirol erforscht, um Erkenntnisse darüber zu gewinnen, ob in Südtirol andere Risikogruppen bestehen. Das endgültige Ergebnis dieser Studie wird zwar erst 2004 vorgestellt werden, doch kann der Psychiater und Psychotherapeut Roger Pycha bereits jetzt erste Zwischenergebnisse vorstellen. "Was wir bisher herausgefunden haben ist doch beeindruckend, die Hälfte der Menschen, die sich in Südtirol in den letzten drei Jahren das Leben genommen haben, scheint an der Krankheit Depression gelitten zu haben. Durch gezielte Behandlung der Depressionen werden wir einige Suizide verhindern können. Alle zu verhindern wird uns nie gelingen, denn letzlich hat jeder Mensch die Möglichkeit zu bestimmen, ob er weiterleben will oder nicht.“
Eine weitere Frage, der diese Studie auf den Grund zu gehen hofft, beschäftigt sich damit, ob deutschsprachige Südtiroler suizidgefährdeter als italienischsprachige sind. Eine wissenschaftliche Studie der Universität Innsbruck hat 1994 belegt, dass sich in Südtirol deutsch- und ladinischsprachige Männer häufiger das Leben nehmen als italienischsprachige. „Wenn es einem Italiener schlecht geht,“ so interpretiert Roger Pycha das Ergebnis dieser Studie, „schreit er auf, mamma mia, quanto sto male. Alle hören es und wissen es. Auf diese Weise bekommt man leichter Hilfe. Wenn es einem deutschsprachigen Südtiroler schlecht geht, verbeißt er den Schmerz bis das Zahnfleisch blutet. Das ist nicht unbedingt die Haltung, die ihm Hilfe zukommen lässt. Sie treibt ihn tiefer in die Isolation."
Südtirol weist nämlich in Italien die höchste Suizidrate auf. Während der italienweite statistische Durchschnitt der Suizide pro hunderttausend Einwohner zwischen fünf und sieben schwankt, liegt dieser in Südtirol zwischen zwölf und fünfzehn. Aber bereits Nordtirol liegt mit zwanzig bis vierundzwanzig Selbstmorden auf hunderttausend Einwohner deutlich höher. Europaweit bewegt sich Südtirol im Mittelfeld. Der in Bozen privat praktizierende Psychiater und Psychoanalytiker Rudolf Schöpf spricht in diesem Zusammenhang die kulturellen Unterschiede zwischen den mediterranen und nordeuropäisch geprägten Kulturen an: "Je nordischer die Kulturen, um so höher die Suizidrate. Mittelmeerländer, die zwar wirtschaftlich größere Probleme haben, haben gleichzeitig eine niedrigere Suizidrate."
Unabhängig von Risikofaktoren, Risikogruppen, Statistiken und kulturellen Einflüssen, bleibt der Selbstmord eine höchst individuelle Erscheinung, die gerade deshalb so schwer zu ergründen ist, weil sie im Wesentlichen Verschlossenheit ist. Der allmähliche Rückzug in eine Welt der Selbstmordgedanken, in der irgendwann der Entschluss entsteht, diesen auch auszuführen, bildet eine Art von Gegenwelt zur Wirklichkeit, die immer bedeutungsloser wird. Ist der Entschluss einmal gefällt, befällt den Selbstmörder eine Ruhe, die er vorher nicht kannte. Was vorher wichtig war, wird im Verhältnis zu dem, was er zu tun plant, unwichtig. Er hat, so paradox das klingen mag, mit einem Mal ein klares Ziel vor Augen. Die Vorstellung, nicht leben zu müssen, befreit ihn von der Last leben zu müssen. In dem Moment, wo der Entschluss gefasst ist, konzentrieren sich seine Gedanken mit einer unheimlichen Klar- und Nüchternheit auf die Ausführung des Suizidplanes, auf das Wie, hinter dem das Warum fast vollständig verschwindet. Von ähnlichen Erfahrungen berichtet Roger Pycha aus Gesprächen mit Menschen, deren Suizidversuch gescheitert ist. Er bezeichnet diese Phase als "Ruhe vor dem Sturm".
Bestimmte Anzeichen für Suizidgefährdung sind aber äußerst schwierig zu erkennen. Roger Pycha verweist hier auf Erwin Ringel, den berühmten Wiener Psychoanalytiker, der in den siebziger Jahren Früherkennungszeichen für Suizidgefahr benannt hat. Vor allem bei Jugendlichen sind Selbstmordträume, -gedanken und –äußerungen Warnhinweise, die ernst zu nehmen und am leichtesten zu erkennen sind. Als zweiter Warnhinweis gilt die Einengung auf den Suizidplan. Als drittes Zeichen nennt Pycha eine unterdrückte und gegen sich selbst gerichtete Aggression: "Viele Betroffene stehen wie unter Dampfdruck. Wenn ich nicht gelernt habe, meinen Schmerz nach außen zu bringen, muss ich alles in mich hineinfressen. Dann kriege ich in mir einen unheimlichen Druck, eine unheimliche Anspannung, die ich nicht hinauslassen darf, die anderen dürfen möglichst nichts davon merken und irgendwann richtet sich dieser Druck gegen den einzigen Menschen, der mir zur Verfügung steht - und das bin ich selbst." Ein viertes Zeichen sind Selbstmordversuche in der Vorgeschichte. Wenn alle vier Warnhinweise zusammen auftreten, besteht akute Suizidgefahr.
Es gibt zehnmal mehr Suizidversuche – die Dunkelziffer liegt noch weit höher – als tatsächliche Suizide. Vor allem bei Jugendlichen enden Selbstmordversuche wesentlich seltener tödlich als bei älteren Personen. Jugendliche bilden überhaupt einen Sonderfall, was die Selbstmorde betrifft. "Bei Jugendlichen handelt es sich", so Rudolf Schöpf, "um zumeist unauffällige Leute, die auch keiner bestimmten sozialen Schicht zugeordnet werden können. Vom Sohn eines bekannten Politikers bis zum Jungen auf dem Bauernhof gibt es hier alle Möglichkeiten." Das besonders Tragische am Tod von Jugendlichen ist, dass sie sich vor ihrer Tat absolut verlassen fühlen, obwohl sie es oft tatsächlich nicht sind. Pycha berichtet von Jugendlichen, die ihren Selbstmordversuch überlebt haben und einheitlich von diesem Gefühl erzählen. "Sie fühlen sich verlassen, obwohl ihre Eltern sagen, man finde einfach keinen Zugang mehr zu ihnen oder die Freunde erklären, in letzter Zeit redet er nicht mehr mit uns und spielt nur mehr den Coolen, die Freundin hat ihn verlassen, aber er tut so als würde ihm das nichts ausmachen. Der Jugendliche gerät so immer tiefer in eine Haltung, die verhindert, dass andere sich annähern könnten und umgekehrt sind die anderen oft nicht sensibilisiert, dass jemand in einer schwierigen Lage mehr Gespräch, mehr Verständnis, mehr Nähe braucht. Die Coolness ist gefragt, das Vergnügen ist gefragt, und wer mit diesem Rhythmus nicht gut mithalten kann, der steht schon im Abseits."
Experten werten selbstzerstörerische Handlungen junger Menschen vor allem als Hilfeschrei, um auf eine als unerträglich empfundene Situation aufmerksam zu machen.
Genau hier setzt Pycha ein, wenn er betont, dass es vor allem darauf ankomme, wie man aus schweren Krisen wieder herauskomme: „Seelische Wunden sind nicht sichtbar, und um Menschen mit seelischen Problemen bildet sich nur zu oft eine Mauer des Schweigens, keiner redet mit ihnen und sie reden mit keinem.“ Dass es nicht einfach ist diesen Kreislauf zu durchbrechen, bestätigt auch Rudolf Schöpf: "In meine Privatpraxis kommen Leute, die lieber zu einem privaten Psychiater gehen, weil sie sich schämen in einen öffentlichen Dienst hineinzugehen, wo bekannt werden könnte, dass sie diesen Dienst beanspruchen. Und das ist bei uns in Südtirol ein großes Problem."
Die Scheu im Umgang mit psychischen Problemen, Psychologen und Psychiatern hat in den letzten zehn Jahren zwar abgenommen, offen geredet wird darüber aber nicht. Themen wie Suizid oder psychische Krankheiten überhaupt sind noch mit einem Schamgefühl behaftet, das um Entschuldigung dafür bittet, nicht so zu funktionieren, wie es von einer vermeintlich intakten Umgebung erwartet wird.
[F] Wohin können Sie sich wenden? [/F]
Inzwischen gibt es in Südtirol ein Netzwerk von Anlaufstellen, die sich für selbstmordgefährdete Menschen aber auch für die Hinterbliebenen zuständig fühlen und an die sich Betroffene wenden können.
• Hausärzte
• Zentrum für psychische Gesundheit, Schlanders
Tel. 0473 / 73 66 92
• Zentrum für psychische Gesundheit, Meran,
Tel. 0473 / 251700
• Erste Hilfe Stationen in Schlanders und Meran für
dringende Fälle zu jeder Tages- und Nachtzeit
• Psychologischer Dienst, Meran, Tel. 0473 / 222226
• Psychosoziale Beratungsstelle in Mals und Schlanders
• Privat praktizierende Psychiater und Psychologen
Stefan Schwienbacher