Schulführung ist eine Gratwanderung
Nach 23 Jahren Schulführungskraft an verschiedenen Schulsprengeln im Vinschgau geht Direktor Reinhard Zangerle in den Ruhestand.
Eyrs - Mit Reinhard Zangerle geht eine Persönlichkeit in den Ruhestand, die die Entwicklungen in der Südtiroler Schule miterlebt und ein Stück weit mitgetragen hat. Reinhard Zangerle ist einer der Väter der Erlebnisschule in Langtaufers, ein „Türöffner“, der Entwicklungen angeregt und Vorhaben stets ermöglicht hat und der immer wieder Neues ausprobiert hat. der Vinschger hat mit Direktor Zangerle ein Gespräch zu seinem Abschied von der Schulbühne geführt.
der Vinschger: Wann haben Sie Ihre Schullaufbahn begonnen, was waren besondere Stationen, gibt es besonders schöne Erinnerungen?
Reinhard Zangerle: Begonnen habe ich meine Schullaufbahn im Schuljahr 1980 an der Grundschule Mals in einer 5. Klasse, anschließend kurz an der Sonderschule Mals und an der Grundschule Reschen. Unterrichtet habe ich an der Grundschule Schlanders Hauptort, am Schlanderser Sonnenberg, in Tschengls, fünf Jahre in Hofern an der Pustertaler Sonnenstraße, in Tanas und in Eyrs. Als Lehrer habe ich die meisten Jahre an niederorganisierten Schulen gearbeitet. Schöne Erinnerungen gibt es viele. Besonders in Erinnerung habe ich die Sonnenberger Kinder und Eltern, ebenso die Jahre in Hofern im Pustertal und die Herausforderungen und Besonderheiten der Kleinschulen.
Sie waren bereits mit 34 Jahren Grundschuldirektor und schon damals haben Sie die Anforderungen und Aufgaben einer Führungskraft in der Schule kritisch hinterfragt. Warum?
Ich habe schon damals begonnen, Aspekte der Schulleitung und Schulführung zu beleuchten und zu erörtern, weil man nach einem Wettbewerb, noch relativ jung, gewissermaßen ins kalte Wasser gesprungen ist. Einerseits aus Unsicherheit und zum Teil auch aus einem gewissen Ehrgeiz, die eigene Arbeit gut zu machen, habe ich mich mit kritischen Freunden auf den Weg gemacht, unsere Aufgabe als Schulführungskraft im Sinne einer Intervision zu beleuchten. Die Führungskräfteschulung der Eurac und später die Mitarbeit am Berufsleitbild der Schulführungskräfte in Südtirol waren für mich in der Positionierung als Schulführungskraft durch selbstreflexive Herangehensweisen sehr wertvoll. Menschen führen ist bisweilen so wie „Flöhe hüten“. Menschenführung in der autonomen Schule habe ich als Herausforderung und Gratwanderung erlebt.
Gratwanderung weshalb?
Schulführung habe ich deshalb als Gratwanderung erlebt, weil es mir wichtig war, die Freiräume und autonomen Gestaltungsmöglichkeiten auszuloten, um Schule zeitgemäß und human zu gestalten. Die Erprobung verschiedener Unterrichtskonzepte und Organisationsformen habe ich angeregt und unterstützt. Immer aus der Überzeugung, was für das Lernen der Menschen im System Schule Sinn macht und nicht verboten ist, ist erlaubt. Lernen heißt für mich auch auf Veränderung und auf Neues positiv zuzugehen.
Man könnte Sie auch als einen „Türöffner“ bezeichnen.
Ich habe meine Arbeit eben auch darin gesehen, Entwicklungen und Vorhaben zu ermöglichen und Neues auszuprobieren. So initiierte und unterstützte ich den expertengestützten Musikunterricht, Angebote der außerschulischen Tätigkeiten wie zum Beispiel die Sommerschule oder das offene Ganztagsangebot. Ein Anliegen war mir auch immer der Unterricht nach reformpädagogischen Grundsätzen und das Lernen an der Wirklichkeit an realen Objekten wie zum Beispiel durch die Schulvivaristik. Im letzten Schuljahr haben wir in den Klassen mit musikalischer Ausrichtung den Instrumentalunterricht nach dem Drehtürenmodell erprobt und eingeführt.
Ein großes Anliegen war Ihnen das naturverbundene, ökologische Lernen an der Wirklichkeit und in diesem Zusammenhang der Aufbau der Erlebnisschule in Langtaufers.
Die Erlebnisschule ist aus einem Leaderprojekt entstanden und wurde 2001 durch den Schulsprengel Graun übernommen. Den Ausbau der Erlebnisschule erlebte ich mit Spannung und Freude, trotz größerer und kleinerer Herausforderungen am Anfang, die ich gemeinsam mit Wolfgang Thöni und den Mitarbeitern durchzustehen hatte. Heute ist die Erlebnisschule über die Grenzen hinaus bekannt und nicht mehr wegzudenken. Das Lernen an der Wirklichkeit bedeutet, konkrete, unmittelbare Naturerfahrungen zu machen, die einen realistischen Zugang zur Welt verschaffen. Kein Arbeitsblatt, keine Folie und kein Film können die Wirklichkeit ersetzen. Ein Zitat lautet: Wasser verstehen ist mehr, als es nur zu sehen.
Die Individualisierung und Differenzierung im Unterricht sahen Sie schon früh als Dreh- und Angelpunkte für personenbezogene Lernmöglichkeiten. Wie konnten Sie dies den Lehrerkollegien bewusst machen?
Ich habe eine Zeit lang die Steuergruppe Inklusion auf Bezirksebene, eine Art Forum für Fragen und Anliegen im Bereich Inklusion, geleitet. Durch die Zusammenarbeit mit den Fachdiensten und die Organisation inklusionsspezifischer Fortbildungen wurde versucht Lehrpersonen und Eltern ein Bewusstsein und tieferes Verständnis für die verschiedenen Lernschwierigkeiten und Störungsbilder zu vermitteln. Mit den Lehrpersonen wurde ganz konkret bei Konferenzen und Klassenratssitzungen daran gearbeitet.
Sie haben des Öfteren bei Publikationen mitgearbeitet. Ein Steckenpferd von Ihnen?
Meine Interessen sind sehr weitläufig. Ob es jetzt die Schulgeschichte oder allgemeine pädagogische oder soziale Themen sind, nicht nur rund um Schule und Lernen: es interessiert mich der Garten des Menschlichen.
Die Schule ist ein Spiegel der Gesellschaft. Wie sehen Sie die gesellschaftliche Entwicklung in Bezug auf die Schule?
Die Gesellschaft und auch die Familienstrukturen haben sich verändert, ebenso die Sozialisationsgeschichten der Kinder. In den Familien ist man um eine kollegiale Beziehung untereinander bemüht, was sehr positiv ist. Auseinandersetzungen stellt man oft aus, oder solche ergeben sich einfach aufgrund der geringen Familienmitglieder und der stärkeren Nähe nicht. Grenzen setzen fällt oft schwer. Das wirkt sich auf die Konfliktfähigkeit aus. Der Umgang mit Frustrationen und das Zurückstellen eigener Bedürfnisse können so weniger erlebt und durchgestanden werden. Umgehende Bedürfnisbefriedigung steht an, warten können fällt schwer. Die Beschleunigung der modernen Welt und der Wunsch nach dem perfekten Leben, der perfekten Familie, erzeugen einen Druck, der nicht allen gut tut, sei es Kindern wie Erwachsenen. Das heißt für die Schule, dass sie diesen Entwicklungen Rechnung tragen muss und durch entsprechende Unterrichts- und Organisationsformen darauf zu reagieren hat. Grundsätzlich bin ich der Meinung, dass Familien durch diesen Druck zum Teil überfordert und auf alle Fälle unterfördert sind und mehr gesellschaftliche Unterstützung und Anerkennung brauchen.
Früher hatte die Schule vor allem die Aufgabe der Wissensvermittlung. Wo sehen Sie heute die Hauptaufgabe der Schule?
Schule soll Kinder begleiten und den Erwerb von Fähigkeiten, Fertigkeiten, also fachlichen Kompetenzen ermöglichen, aber auch soziale und personale Lebenskompetenzen berücksichtigen, um aus den Kindern glückliche Menschen zu machen. Weniger Wissensvermittlung und mehr Wissensmanagement sind gefragt, das die Kinder befähigt, auf Veränderungen angemessen zu reagieren. Durch Lernberatung und Reflexion des eigenen Lernens bemüht man sich, eine positive Haltung für ein lebenslanges Lernen anzuregen. Letztendlich nutzen einem die ganzen Fähigkeiten nicht, wenn man nicht eine gewisse Offenheit und Bereitschaft für Veränderung, sprich für das Lernen hat. Ein hoher Anspruch an die Schule, die einen Rahmen bieten soll, in dem eine lernförderliche Haltung aufgebaut werden kann. Es geht darum, dass Kinder über Fähigkeiten und Fertigkeiten und dem dazugehörigen Wissen persönliche Kompetenzen entwickeln, damit sie sich in der Welt zurechtfinden.
Eine große Herausforderung für die Schule ist der hohe Anteil an Migrantenkindern. Wie sehen Sie dieser Entwicklung entgegen?
Migration ist ein uraltes menschliches Phänomen und Multikulturalität ist schon lange eine Tatsache, mit der man auch in der Schule konfrontiert wird. Den Neuen in der Klasse hat es immer schon gegeben. Jetzt kommen auf einmal mehr Kinder aus unterschiedlichen Kulturen zu uns. Das erfordert einen Lernprozess, auf den sich die Gesellschaft und die Schule als Ganzes einlassen muss, und wo es darum geht, mit einer Haltung der Wertschätzung aus der Situation das Beste daraus zu machen, Verschiedenheit und Vielfalt als Bereicherung und Chance für Neues zu sehen. Schule als Ort des sozialen Lernens leistet hier Großartiges und wird durch das Sprachenzentrum unterstützt. Natürlich sind zusätzliche Ressourcen dafür notwendig.
Der Umgang mit neuen Medien macht auch vor dem Klassenzimmer nicht Halt. Wo sehen Sie die Grenzen im Pflichtschulbereich?
Die neuen Medien und die neuen Informations- und Kommunikationstechnologien sind eine Realität, die auch die Schule zu berücksichtigen hat. Die Rahmenrichtlinien sehen klare Kompetenzen vor, die wir mit den Kindern anzustreben haben. Gerade in dem Bereich zeigt sich, dass die Kinder nicht nur in der Schule lernen und deshalb geht es um Strukturierung und Reflexion des Lernens mit den neuen Medien. Wir sollen Kinder dazu befähigen, sich in der digitalen Welt verantwortungsvoll zurecht zu finden und diese für sich kreativ und kritisch zu nutzen. Kritisch nutzen bedeutet dabei, dass man sich auch mit Risiken und Gefahren in der digitalen Welt beschäftigt.
Eine letzte Frage: Wie sieht Ihre Zukunft als ein so junger Pensionist vor?
Auf dem Programm stehen zuerst einmal ein paar Tage Urlaub, dann gibt es familiäre Verpflichtungen bei zwei Enkelkindern und eigenen Kindern im Haus sowie einer noch berufstätigen Frau, die nun auch entlastet werden kann. Weiters stehen einige schon lange aufgeschobene persönliche Weiterbildungen an. Ich bin auch ehrenamtlich tätig: habe mich zum Leiter von Gottesdienstfeiern ausgebildet und stehe der Volkstanzgruppe Eyrs als Obmann vor. Ich habe Freude an der Arbeit im Garten und bin gerne mit dem Rad unterwegs.
Interview: Ingeborg Rechenmacher
