Der Gletscher kommt
Der Drei-Ferner-Weg ist zum Ein-Ferner-Weg geschrumpft: Übrig bleibt der Untere Ortlerferner, Juli 2004.

Schwitzende Gletscher

Publiziert in 15 / 2005 - Erschienen am 4. August 2005
Globale Klimaerwärmung, sinkender Wasserspiegel und sterbende Gletscher - ein Klimatrend, den es seit Jahrtausenden gibt und der bisher stets mit einer Abkühlung endete. Ob es dieses Mal auch so sein wird? von Andrea Kuntner An den vergangenen Winter denken Skitourengeher nur ungern zurück. Der Traum von den Pulverschneehängen und den Firnflanken im Frühjahr ging dieses Jahr kaum in Erfüllung. Nur Insider, die sich wochentags frei machen können, konnten einige Herzklopfabfahrten in ihrem Tourenbuch vermerken. „Im heurigen Winter hat sich die Niederschlagsmenge mehr als halbiert. Wir sprechen von knapp zwei Metern Schnee, die in der südlichen Ortlergruppe gefallen sind“, beobachtete Christoph Oberschmied vom Hydrografischen Amt in Bozen. Das Hydrografische Amt nimmt gemeinsam mit der Universität Innsbruck seit Jahren zwei Gletscher näher unter die Lupe: den Weißbrunn- und den Langenferner im Ulten- bzw. Martelltal. Dabei werden acht Meter tiefe Löcher ins Eis gebohrt und in sie Nylonstangen gesteckt. Anhand dieser wird dann der Rückgang der Mächtigkeit des Eises gemessen. Der Weißbrunnferner verliert jährlich an die 5,4 m Mächtigkeit, Volumen, der Langenferner zwischen vier und acht Meter. Keine Vergleichszahlen, aber trotzdem interessante Zahlen liefert der Gletscherbericht des Glaziologen Gernot Patzelt der Uni Innsbruck. Seine Zahlen beruhen auf den Rückgang der Gletscherzunge. Rückgangsspitzenreiter ist der Taschachferner in den Ötztaler Alpen: - 61 m. Weitere Daten: Vernagtferner - 16,3 m, Hintereisferner -14,1 m, Gepatschferner -12,6 m, Weißseeferner - 8,5 m, Similaunferner - 5 m. Laut einer Studie der 260 Südtiroler Gletscher sind diese in den letzten 30 Jahren um 20 Prozent geschrumpft. Im Mittel schmelzen an warmen Sommertagen zwischen sieben bis zehn Zentimeter Eisdicke pro Tag, so Christoph Oberschmied. Anders als in Österreich, gibt es in Südtirol keinen Gletscher, der an Volumen oder Länge zunimmt. Diese fehlende Niederschlagsmenge ist eine der Ursachen für den in den letzten Jahren deutlichen Rückgang der Gletscherflächen. Zwar wurde bisher der modernen Zivilisation mit ihrem umweltschädlichen Lebensstil die Schuld zugewiesen, mittlerweile sind die Wissenschaftler mit solchen Pauschalurteilen vorsichtiger. Würde diese These nämlich stimmen, müsste der Gletscherschwund extremer fortgeschritten sein, ist sich Oberschmied sicher. Vermutlich spielen vergangene meteorologische Ereignisse, die Jahrhunderte und Jahrtausende zurückliegen, eine Rolle „In jedem Fall zählen wir heuer das dritte, niederschlagsarme Jahr in Folge“, so Oberschmied. Und der fehlende Winterniederschlag wirkt sich fatal aus, da der Schnee das Basismaterial für die Bildung von Gletschereis ist. Tiefe Temperaturen und erhöhter Druck bewirken eine Umwandlung von Schnee in Eis. Insbesondere der stechende Sonnenschein und der warme Gewitterregen fressen das Eis förmlich. Oberschmied hatte in der letzten Woche am Langenferner die Beobachtung gemacht, dass wahre Wildbäche über die Gletscherfläche rauschen und tiefe Gräben verursachen. Die Folgen des Gletscherrückganges sind auffällig. Der Drei-Ferner-Weg, ein Verbindungsweg zwischen Franzenshöhe an der Stilfser Jochstraße und der Payerhütte in der Zeit des Tourismusbooms Ende des 19. Jahrhunderts angelegt, ist zu einem Ein-Ferner-Weg geworden. Relikte aus dem Ersten Weltkrieg kommen zum Vorschein, wie ein Geschütz, das zurzeit in Nationalparkhaus naturatrafoi ausgestellt ist. An die Stelle der beiden verschwundenen Ferner sind interessante Felsformationen ans Tageslicht gekommen, Gletscherschliffe so glatt wie ein Babypopo. Die letzte, kleine Eiszeit, „little iceage“ genannt, wird von der Wissenschaft zwischen dem 13. und Mitte des 19. Jahrhunderts angesiedelt. Mit den Überlieferungen zum rasanten Vormarsch des Suldenferners bis kurz vor die Gampenhöfe sind auch hiesige Quellen über das Ende der Eiszeit vorhanden. Der Suldenferner war laut dem Geologen Manfred Reichstein aus Halle mit Sicherheit ein „galoppierender Gletscher“, der eine Fließgeschwindigkeit von einigen Kilometern im Jahr erreichen kann, „brave“ Gletscher zwischen 6 bis 10 Meter. In der Zeit des Ortlerpioniers Julius Payer sind die Gletscher auf dem Rückzug, auch Gletscherungunstjahre genannt. Neuerliche Vorstoßperioden gibt es um 1890, 1920 und 1940. Ab Mitte der 1970er Jahre glaubte man, dass eine nächste Eiszeit sich nähere, weil niederschlagsreiche Jahre die Gletscher kurzfristig hatten wachsen lassen. Damit ist es seit den 1980er Jahren vorbei. Die Mure ging nachmittags ab. Hundert Menschen waren auf dem Weg zwischen Vorderkaser und den Eishöfen im Pfossental unterwegs. Der Almerlebnispfad war eingeweiht worden. Alle zwei Jahre stürzt vom Rossberg eine erhebliche Wassermenge zu Tal, verschüttet den Almweg. In einer so genannten Wasserstube (ähnlich einem See), die sich aufgrund des Zusammenstoßes von Schröf- und Similaungletscher bildet, sammelt sich Wasser. Glücklicherweise kam niemand zu Schaden. Diese Wasserstuben sind keine Seltenheit. Im 19. Jahrhundert hat sich im Martelltal Ähnliches ereignet. Am Talende war 1887, 1888, 1889, 1891 und 1895 die Wasserstube, die sich zwischen Langen- und Zufallferner gebildet hatte (dabei verschließen sich Spalten), ausgebrochen und hatte Zerstörung über Martell gebracht. Deshalb wurde 1892 die Klause gebaut, die die großen Wassermassen sammeln und einen langsamen Abfluss ermöglichen sollte. Bis heute kam diese Klause nicht zum Einsatz. Grundsätzlich wissen die gletscherinteressierten Wissenschaftler wie Meteorologen, Glaziologen und Geografen wenig über die historischen Minimalstände der Gletscher. Als sicher gilt, dass die Gletscher derzeit keineswegs ihren Tiefststand, der in der Nacheiszeit vermutet wird, erreicht haben. Allein der berühmte Fund des Ötzi beweist jedoch, dass der Gletscher vor 5.300 Jahren höher angesiedelt, also das Klima wärmer war als heute. Erst im vergangenen Jahr entdeckte ein Hirte am Gletscher unterhalb der Similaunhütte einen Tierkadaver. Untersuchungen der Hufeisen ergaben, dass das Tier über 300 Jahre alt war. Der enorme Felssturz am Thurwieser hatte im September 2004 viel Staub aufgewirbelt. Bergsteiger hatten vom Cevedale aus den Abbruch von über 1,5 Mio. Kubikmeter Gestein an der Südflanke Richtung Lombardei beobachtet. „Die Reibung des Materials hatte Blitze entstehen lassen“, wusste damals Bergführer Ernst Reinstalder aus Gomagoi zu erzählen. Die riesige Staubwolke trieb bis ins hintere Suldental und verdunkelte für Stunden den Himmel. Der Rückzug der Permafrostzone (das ganze Jahr über gefrorener Boden) auf über 3.100 Metern Höhe bzw. ins Erdinnere hatte diesen Felssturz ausgelöst. Das Eis, bisher Bindemittel zwischen den einzelnen Gesteinsbrocken, hatte sich in Wasser verwandelt. Noch immer berichten Bergsteiger von bröckelndem Gestein Wenig Steinschlag hat der Hüttenwirt der Düsseldorferhütte, Walter Reinstadler, heuer am Nordwest-Grat beobachtet. Sein Sohn Martin war im August 2003 der letzte Bergsteiger, der den Weg vor dem Abgleiten eines Teils des Grates passiert hatte. Im Vorjahr musste der Zustiegsweg zur Hütte verlegt werden, nachdem die Steinschlaggefahr unterhalb der Vertainspitze immer größer geworden war. Unterhalb des Gipfels befanden sich zwei Blockgletscher, die sich nun allmählich auflösen. Christian Hohenegger von der Weißkugelhütte spricht von derzeit noch guten Verhältnissen. „Vor drei Wochen war ich am Gepatschferner. Dort herrscht beinahe noch tiefster Winter, weil ja anfangs Juli eine Kälteperiode war und die wenigen Zentimeter Schnee hatten doch die Verhältnisse wieder verbessert.“ Ihm fällt auf, dass viele Routen zum Gletscher einfach nicht mehr so begehrt sind wie in früheren Jahren. Sei es, dass die Routen schwieriger geworden sind, weil unberechenbar, aber auch weil die Optik sich verändert hat. „Die Bergsteiger finden keinen Reiz darin, stundenlang über Moränenfelder zu wandern. Deshalb tut sich meiner Meinung nach eine Verschiebung hin zum Wintertourismus, sprich zum Skitourengehen“, so Hohenegger. Laut Geologen Manfred Reichstein ist die oberirdische Schneegrenze von 2.700 auf 3.100 in den letzten 50 Jahren in Südtirol angestiegen. „Hält dieser Trend an, so kann man davon ausgehen, dass 2050 nur noch 50 % der derzeitigen Gletscher vorhanden sein“, so Reichstein. Mit den Gletschern schwinden auch unsere Wasserreserven dahin. Die heuer noch halbleeren Stauseen sind u. a. der Beweis dafür. Anerkannte Klimaszenarien gehen von einem weiteren Anstieg der weltweiten Durchschnittstemperatur aus. Bäche führen den ganzen Sommer über sandhaltiges Gletscherwasser. Der Gletscher kommt. Und ein Mal mehr können wir Menschen uns die Frage stellen, wie viel Anteil wir an dieser unheilvollen Entwicklung haben und was wir zumindest ab jetzt daran ändern können. Gletscherabdeckung wie derzeit in der Schweiz, Österreich und Deutschland im Versuch, sind dabei wohl eine lächerliche Variante.
Andrea Kuntner
Andrea Kuntner

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