Von Mals bis Rasass
Viehauftrieb auf Weidegründe in der Schweiz
Kurz nach 4 Uhr bei der 14-Nothelfer-Kirche in Mals
Kurz nach 4 Uhr bei der 14-Nothelfer-Kirche in Mals
Auf der Straße in Richtung Burgeis und durch das Dorf
Bei der „schwarzen Wand“ beginnt der härteste Teil des Auftriebs; links der Hirte Johann Waldner.
Vor der Alten Pforzheimer Hütte
Durch das Uinamoos
Essen, Trinken und „Huangartn“ an der einstigen „Kontrollstelle“
Andacht mit Kooperator Michael Lezuo
Mit zwei Beinen in der Schweiz und zwei auf Malser Boden.
Ortsaugenschein bei der Hirtenhütte.

Seit 413 Jahren …

… treiben die Malser ihr Galtvieh im Sommer über die Grenze in die Schweiz

Publiziert in 26 / 2021 - Erschienen am 2. August 2021

Mals - Eidottergelb blickt der volle Mond von Westen her durch leichte Nebelschwaden auf Mals. Das Dorf schläft. Mit Stirnlampen, Stöcken und leichten Rücksäcken steht ein gutes Dutzend junger Leute gegenüber der 14-Nothelfer-Kirche. „Passt auf, bald kommen sie,“ sagt ein junger Bauer. Wer vorne mitgeht, soll sich bereithalten, die Treiber gehen in der Mitte und der Rest bildet die Nachhut. Es ist kurz nach 4 Uhr, als ca. 280 Stück Galtvieh - von den Malettesböden kommend - gruppenweise und schellend im Dorf eintreffen. Für die Kalbinnen, trockenen Kühe und halbwüchsigen Kälber geht der „Marsch“ nahtlos weiter, auch wenn sich jetzt mehr Menschen dazu gesellen und mitgehen. Schellend und nicht gerade langsam zieht die „Viehschlange“ in der Dunkelheit auf der Staatsstraße in Richtung Burgeis. Die Weidezaunbänder links und rechts der Straße, die schon am Vorabend angebracht wurden, sind zwar nicht zu sehen, hindern die Tiere - und auch einige ihrer zweibeinigen Begleiter - dennoch daran, auszuscheren und vom Weg abzukommen. In Burgeis brennt in manchen Ställen schon Licht. Nun sind neben den Schellen auch die ersten Melkmaschinen zu hören. Das Vieh nimmt davon keine Notiz, trabt zielstrebig weiter und windet sich in der Dämmerung über die Kurven hoch. Rechts oben erwacht ein massiger weißer Block aus der Dunkelheit. Es ist das Kloster. Hinter drei kleinen Fenstern der mächtigen Mauern brennt Licht. Die Mönche sind sicher schon wach.

Auf das Kloster folgten die Malser Bauern

Das Benediktinerstift Marienberg ist irgendwie „Schuld“ daran, dass die Malser ihr Galtvieh seit nunmehr 413 Jahren ununterbrochen auf die Weideflächen nach Rasass bringen, bis vor rund 20 Jahren auch Schafe. Bis 1608 war es nämlich das Kloster, das die Weide Sursass (man sagt allgemein, Rasass, was „über den Stein“ bedeutet) von der Gemeinde Sent im Unterengadin gepachtet hatte. Der Pachtvertrag war 1472 abgeschlossen worden. Infolge verschiedener religiöser Spannungen, Stichwort Reformation und deren Folgen, kündigte das Kloster den Pachtvertrag auf, sodass 1608 die Malser Bauern zum neuen Pachtpartner wurden. Und sie sind es bis heute, und zwar in Form der Weideinteressentschaft Kälberberg Orgles. Dass die Schweizer die Weidegründe, die ca. 630 Hektar umfassen, nicht selbst nutzten bzw. nutzen, liegt daran, dass sie von Schweizer Gebiet aus kaum oder nur sehr schwer erreichbar sind, man denke nur an die Uina-Schlucht.

Früher fast ausschließlich Braunvieh

Wurde früher fast ausschließlich Braunvieh aufgetrieben, so sind mittlerweile fast alle Rassen vertreten. Auch Schwarzbunte, Simmentaler, Graue und sogar Jersey-Rinder zeichnen sich bei zunehmendem Tageslicht ab. Trotz der Weidezaunbänder oder anderweitiger Absperrungen gelingt es dem einen oder anderen Rind, kurz auszubrechen und ein Maulvoll Gras zu schnappen. Die „betroffenen“ Bauern von Burgeis, Prämjur und Schlinig werden dafür aber ein Nachsehen haben. Immer war das nicht so, denn vor allem der Durchtrieb des Viehs durch das Gebiet der Schliniger Bauern hatte einst zu Schwierigkeiten geführt. Frieden brachte die Vereinbarung, wonach der Auftrieb drei Tage vorher zu melden ist. Zwischen Burgeis und Schlinig stößt das Vieh beim Auftrieb am 24. Juli nur auf zwei Autos. In beiden sitzen Urlauber, die aussteigen, den Tross staunend vorbeiziehen lassen und mit den Handy Fotos machen. Vielleicht die schönsten Bilder ihres Urlaubs.

Spineid-Malettes-Rasass

Nach der Anhöhe vor dem Dorf Schlinig haben viele Tiere noch so viel Kraft, dass sie vom Schritt zum Trab wechseln. Gut in Form sind sie deshalb, weil sie sich schon vorab ab Mitte Mai auf der Heimweide Spineid in Mals und später bis zum Auftrieb nach Rasass auf Malettes aufgehalten haben. „Zusammen mit Spineid, Malettes, Rasass und dann wieder Malettes und Speineid können die Malser dem Vieh einen rund sechs Monate langen Weideaufenthalt bieten. Das sind 6 Monate ‚Wellness’“, wird uns später der Fraktionsvorsteher Armin Plagg auf Rasass erzählen. Bis dahin ist es aber noch weit. In Schlinig sind es nicht nur Bauersleute, die vor Stalltüren die vorbeiziehende Herde und die Begleiter beobachten, sondern auch der eine oder andere Gast im Morgenrock und mit dem Handy auf dem Balkon.

Wasser ist gefragt

Entlang des langen, ebenen Weges von Schling in Richtung Schliniger Alm wird es so langsam durstig. Die Tiere streben auf jeden Brunnen, jeden Bachlauf und jede Pfütze zu. Die Menschen greifen in die Rucksäcke. Wer auf eine Rast auf der Schliniger Alm hofft, wird enttäuscht: nichts da, weiter! Die Tiere, allen voran die älteren, wissen, dass der schwerste Abschnitt noch vor ihnen liegt. Es ist das der ziemlich steile Aufstieg neben der sogenannten „schwarzen Wand“ am Talschluss. Erst jetzt zeigt sich, wer ein richtiger Treiber ist und nicht davor zurückscheut, ausgebrochene Tiere im steilen Gelände wieder auf den richtigen Pfad zu bringen. Auch für den Hirten Johann Waldner aus St. Valentin a.d.H. ist jetzt der brenzligste Teil des Auftriebs gekommen. Er hat mit Hilfe seines Fernrohrs und seines Hundes alles im Blick und im Griff. Johann Waldner, der im Oberland und darüber hinaus als leidenschaftlichster Skitourengeher weit und breit bekannt ist, konnte heuer im 3. Jahr als Hirte gewonnen werden.

Wer folgt wem?

Mit Ausnahme einer ziemlich schweren Kuh, die abzustürzen droht, aber noch rechtzeitig am Schellengurt festgehalten werden kann und daraufhin eine Pause einlegen muss, schaffen alle Tiere den Aufstieg. In der Nähe der Schutzhütte Sesvenna und vor der Alten Pforzheimer Hütte treffen Rinder und Menschen auf Mountainbiker, die respektvoll und staunend warten, bis der Tross im Nebel im Uinamoos verschwindet. Jetzt sind alle müde: folgen die Rinder den Menschen oder die Menschen den Rindern? Das ist jetzt einerlei, denn nach dem weiten Hochmoor tauchen der Schlinigpass (2.309 Meter) und der Grenzstein auf. Der Gebirgspass verbindet das Schlinigtal mit dem Val d’Uina im Kanton Graubünden. Die Passhöhe liegt einen halben Kilometer südöstlich der Grenze. 

Donau-Etsch-Wasserscheide

Der Pass ist Teil der Donau-Etsch-Wasserscheide. „Je nachdem, wo du pinkelst, gelangt das ‚Wasser’ in das Adriatische Meer oder ins Schwarze Meer“, scherzt Armin Plagg. Nun legen die hungrigen, durstigen und müden Treiber und Begleiter die Rucksäcke ab und lehnen die Stöcke an die Steinmauern, die in früheren Zeiten den Finanzbeamten und Tierärzten dazu dienten, jedes Tier vor dem Übertrieb peinlichst genau zu zählen und zu kontrollieren, zum Beispiel in Sachen Tierimpfungen. Diesbezüglich hat sich mittlerweile vieles gebessert. Der Hirte macht sich noch vor der Rast daran, die Lücke im Weidezaun zu schließen und die Batterie einzuschalten. Jetzt hat er alles im Blick und unter Kontrolle. Das Fressen verschieben die Rinder auf später, jetzt wird zunächst gerastet. Nicht zu sehen sind die 18 Pferdestuten und 5 Fohlen, die bereits vorher aufgetrieben wurden. Nach einem kurzen Blick auf die Uhr resümiert Johann Waldner: „Rund fünfeinhalb Stunden, wir waren heuer gar nicht so schlecht.“

Segen für Menschen und Tiere

Zu den Höhepunkten des Auftriebs gehört seit jeher eine kurze Andacht. Heute ist es Michael Lezuo, Kooperator in Mals, der die Tiere und Menschen segnet. Martin Stecher, der Obmann der Weideinteressentschaft Kälberberg Orgles, dankt allen, die beim Auftrieb mitgeholfen haben. Ohne die Unterstützung möglichst vieler Treiber und Helfer wäre der Übertrieb nur schwer zu schaffen. Waren es früher fast ausschließlich Bauersleute, die mithalfen, so beteiligen sich mittlerweile auch viele Nicht-Bauern mit viel Begeisterung an dieser besonderen Transhumanz. Ähnliche Entwicklungen gab es auch beim Vieh. Wurde früher fast ausschließlich Braunvieh aus Mals nach Rasass aufgetrieben, so stammt mittlerweile rund die Hälfe der Tiere aus anderen Orten im Vinschgau und weit darüber hinaus. Sogar Rinder aus Mölten, dem Sarntal und anderen Orten verbringen ihren „Weideurlaub“ auf Rasass.

Hütte wird renoviert

Einen besonderen Dank für die gute Zusammenarbeit zollt Martin Stecher dem Fraktionsvorsteher Armin Plagg, dem Malser Bürgermeister und Viehbauer Josef Thurner sowie dem Gemeindepräsidenten von Valsot, Victor Peer. Valsot heißt die Fusionsgemeinde, die 2013 aus den Gemeinden Ramosch und Tschlin entstand. Sent war bis 2014 eine eigenständige Gemeinde. 2015 wurde Sent mit den vier Gemeinden Ardez, Ftan, Guarda und Tarasp in die Gemeinde Scuol fusioniert. Auch über die derzeit laufende Renovierung der Hirtenhütte informiert der Obmann die Anwesenden. Die vor 37 Jahren erbaute Hütte wurde u.a. mit einer Photovoltaikanlage ausgestattet. Jetzt gibt es Strom, sodass der Hirte auch warm duschen kann. Die alte Hütte, die neben der jetzigen steht, wird nicht abgetragen, sondern als Lagerraum für die Unterbringung der aufgerollten Zäune und von Geräten instandgesetzt. Bauwerkzeuge und einige Bauteile wurden bzw. werden per Hubschrauber zur Hütte geflogen. Die Renovierungsarbeiten sollen bis zum nächsten Auftrieb abgeschlossen sein. Detail am Rande: Das Wort Corona habe ich während des ganzen Auftriebs nie gehört.

Josef Laner
Josef Laner

Diese Seite verwendet Cookies für funktionale und analytische Zwecke. Lesen Sie unsere Cookie-Richtlinien für weitere Informationen. Durch die Nutzung dieser Website erklären Sie sich damit einverstanden.