Hilf mir, es selbst zu tun!
Die Lehrer (von links): Josef Rufinatscha, Daniela Capellano Reifenhauser, Roman Perkmann, Dorothea Köllemann Rechenmacher, Stefania Telser, Beate Hinke, Friedrich Oberhofer und Direktor Reinhard Zangerle schaffen die nötigen Lernvoraussetzungen und ermöglichen eine gute Begleitung

Selbständigkeit und Eigenverantwortung stärken

Publiziert in 10 / 2011 - Erschienen am 16. März 2011
Schlanders – Das Schulamt hat Montessori­schulen an mehreren Mittelpunktschulen des Landes errichtet, so neben Schlanders auch in Bozen, Meran, Brixen und Bruneck. In Schlanders wird an der Grund- und Mittelschule jeweils ein Klassenzug geführt, in dem man sich in der Erziehungs- und Unterrichtstätigkeit an die Pädagogik der italienischen Ärztin Maria Montessori orientiert. Ziel der Arbeit in diesen ­Klassen ist es, die Selbstgestaltungskräfte der Kinder zu fördern und zu stärken, ganz nach dem Motto „Hilf mir, es selbst zu tun!“ Um den Kindern selbstbestimmtes Lernen zu ermöglichen, haben sie in der Freiarbeit die Möglichkeit, Lerninhalte in der vorbereiteten Lernumgebung frei zu wählen. Das heißt jedoch nicht, dass die Kinder tun und lassen können, was sie wollen. Kritische Stimmen nennen die Montessori-Pädagogik auch „Kuschelpädagogik“, doch zu Unrecht, denn die Rahmenrichtlinien des Landes sind verbindlich für alle Kinder, und so müssen auch die Schüler der Montessoriklassen die vorgesehenen Grundlagen und Kompetenzen erreichen. Neben Fachkompetenzen sind auch die persönlichkeitsbezogenen Kompetenzen wichtig: Kooperation, Teamfähigkeit und Eigenverantwortung. Diese Kompetenzen werden besonders in den Klassen mit Montessori-Ausrichtung gefordert und gefördert, wobei es auch darum geht, das Selbstvertrauen und die Selbständigkeit zu stärken. von Ingeborg Rechenmacher „Der Vinschger“ hat bei Direktor Reinhard Zangerle und bei den Lehrpersonen Josef Rufinatscha und Roman Perkmann, die in der Montessori-Pädagogik ausgebildet sind, nachgefragt: Was zeichnet die Klassen aus, die sich an der Pädagogik der Maria Montessori ­orientieren? Reinhard Zangerle: Die Montessori–Pädagogik setzt beim einzelnen Kind an. Sie geht davon aus, dass jedes Kind anders ist und seine Stärken und Schwächen hat. Die Klassen, welche die Ansätze dieses pädagogischen Konzepts beachten, orientieren sich demzufolge an den individuellen Begabungen und Bedürfnissen der Kinder. Die Unterrichtsmethoden und die vorbereitete Lernumgebung versuchen die bestmögliche Entwicklung der einzelnen Kompetenzen der Schüler zu erzielen. Dies erfolgt in einer Atmosphäre, die von gegenseitigem Respekt und Verantwortung gekennzeichnet ist. Reinhard Zangerle: Was will man mit der Orientierung an der Pädagogik nach Maria Montessori erreichen? Roman Perkmann: Der Unterricht nach den Kriterien von Montessori versucht, die Fähigkeit und Bereitschaft zu Selbst­tätigkeit und Eigenverantwortung im Kind zu wecken. Durch die konsequente Individualisierung des Unterrichts stärken die Lehrpersonen das Selbstwertgefühl und das Selbstvertrauen der Jugendlichen. Der Schüler soll neben der Entwicklung einer positiven Lernhaltung auch die Bedeutung von Werten wie Respekt, Höflichkeit und Hilfsbereitschaft erkennen. Voraus­setzungen für erfolgreiches Lernen und Arbeiten im Unterricht sind natürlich Neugierde und Lernwille. Wie kann man sich die Freiarbeit vor­stellen? Josef Rufinatscha: In der Freiarbeit, ­welche in der Regel acht bis zehn Wochenstunden umfasst, werden Lerninhalte einiger Schulfächer so aufbereitet, dass sie von den Schülern selbstständig bearbeitet werden können. Freiarbeit bedeutet also, dass die Schüler aus einem vorgegebenen Angebot frei wählen, was und wie sie lernen. Innerhalb einer vorbereiteten Umgebung bestimmen sie das Lernfach, die Lernmaterialien, das Lerntempo, den Schwierigkeitsgrad und den Lernpartner (Einzel-, Partner- oder Gruppenarbeit). Die Schüler sollen die Zeit der freien Arbeit in verantwortungsvoller Weise ­nutzen. Während der Freiarbeit halten sich alle Beteiligten an Regeln. Alle verhalten sich rücksichtsvoll, jeder spricht und bewegt sich leise, damit andere nicht gestört werden. Durch persönliche Gespräche festigt sich das Schüler-Lehrer-Verhältnis. Die Lehrperson erhält Einblick in die Lernschwierigkeiten und kann beim Aufbau entsprechender Lerntechniken behilflich sein. Zudem greift die Lehrperson ein, wenn nicht ernsthaft gearbeitet wird, der Schüler stört oder bestimmte Fächer bevorzugt werden. Die Schüler tragen in ihrem Arbeitsplan ein, was sie bearbeitet haben. Wöchentlich findet zudem ein Sesselkreis statt. Die Schüler und Lehrpersonen besprechen in dieser Runde Schwierigkeiten in der Klasse und planen Projekte. Die Lernenden stellen Arbeitsergebnisse vor oder halten Referate. Die Klassen mit der pädagogischen Ausrichtung nach Montessori sind an der MS Schlanders noch relativ jung. Welche Haltungen und Eindrücke haben sich bisher entwickelt? Reinhard Zangerle: Die Rückmeldungen der Schüler zeigen, dass sie sich in den Klassen wohl fühlen und die Möglichkeiten des Lernens, welche im Rahmen der Freiarbeit angeboten werden, sehr ­schätzen. Viele Eltern bewerten positiv, dass sie gut über die Entwicklungs- und Lernprozesse des Kindes Bescheid wissen und in diesem Zusammenhang auch einen besseren Einblick in das Schulgeschehen erhalten. Die Eltern sind nicht nur die wichtigsten Lernbegleiter, sondern tragen auch für das schulische Lernen eine große Verantwortung; sie prägen Einstellungen und Haltungen ihrer Kinder. Die Haltungen und Meinungen von vielen Außenstehenden spiegeln häufig nicht die Wirklichkeit wieder, oder sie bleiben an Vorurteilen hängen, welche Ängste von Eltern freisetzen. Zum einen wird oft gemutmaßt, dass Schüler, welche eine Montessori-Klasse besuchen, im „richtigen Leben“ versagen oder nicht zurechtkommen würden. Zum anderen besteht bei vielen Eltern die Meinung, dass Unterricht nach Montessori vor allem etwas für Schüler mit Lernschwächen sei. Unsere bisherigen Erfahrungen zeigen jedoch, dass sowohl leistungsstarke Schüler als auch Schüler mit Lernschwächen von dieser Unterrichtsform sehr viel profitieren können. Welche Vorteile bieten sich lernstarken Schülern? Josef Rufinatscha: Leistungsstarke Schüler finden im Unterricht nach ­Maria Montessori eine Unterrichtsform vor, die ihnen in besonderem Maße entgegenkommt. Sie können sich mit zusätzlichen Lerninhalten auseinandersetzen und in persönlichen Gesprächen mit der Lehrperson ihr Fachwissen vertiefen. Zudem werden vor allem jene „Schlüsselqualifikationen“ gefördert, die heute von der Gesellschaft gefordert werden. Sie arbeiten zu einem großen Teil eigenverantwortlich und selbständig, sie müssen einen Plan zielstrebig erarbeiten, d.h. managen und organisieren. Die Schüler lernen sich gegenseitig zu unterstützen, im Team zu arbeiten und Anliegen und Meinungen zu artikulieren und zu vertreten. Das breit gefächerte Lernangebot ermöglicht zudem eine kreative und mehrschichtige Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Schwerpunkten. Lehrgänge, Projekte und Kontakte zu außerschulischen Einrichtungen ergänzen den Unterricht. Welche Vorteile ergeben sich in den Montessoriklassen für Schüler mit Lern­schwächen? Roman Perkmann: Schüler mit ­Lernschwächen profitieren ebenso von dieser Unterrichtsform. Auch ihnen stehen anschauliche Materialien zur Verfügung, die ihrem Entwicklungsstand entsprechen. Sie bestimmen ihr Lerntempo selbst und erhalten vor allem im Rahmen der Freiarbeit, die von zwei Lehrpersonen gestaltet wird, eine besondere individuelle Unterstützung. Auf Lernschwierigkeiten kann somit zielgerichtet reagiert werden. Auch sie lernen selbständig zu arbeiten, sich zu organisieren und ihre Wünsche zu äußern. Im Team können sie zudem viel von ihren Mitschülern profitieren und es gelingt ihnen, in einem vertrauten und respektvollen Lernumfeld ihr Selbstbewusstsein aufzubauen. Wie kann man sich einen Klassenraum vorstellen, in dem nach Maria Montessori gearbeitet wird? Josef Rufinatscha: In den Klassen­räumen stehen den Schülern die Lernmaterialien zur Verfügung, die in offenen Regalen einen festen Platz einnehmen. Sie ermöglichen ein eigenständiges Arbeiten und sind vorwiegend auf Selbstkontrolle aufgebaut. Nach Abschluss einer Arbeit räumen die Schüler den eigenen Arbeitsplatz auf und stellen die Materialien an ­ihren Platz zurück. Besonderer Wert wird auf eine freundliche und lernförderliche Atmosphäre gelegt. Sind die Klassen nur für Schüler aus Schlanders offen? Reinhard Zangerle: Die Montessori­klassen sind nicht nur für Schüler aus Schlanders offen. Besonders die Mittel­schule Schlanders hat schon immer Schüler aus anderen Gemeinden aufgenommen. Das Vinzenzheim der Barmherzigen Schwestern ist für viele Kinder während der Schulzeit zur zweiten Heimat geworden, aber auch viele Fahrschüler kommen mit Bus und Bahn nach Schlanders. Für Hospitationen und Schulbesuche kann man sich im Schulsprengel melden. Welche Erfahrungen gibt es mit Abgängern der Klassen, die sich an der Pädagogik nach Maria Montessori orientieren? Reinhard Zangerle: Der Schulsprengel Schlanders kann noch auf keine Abgänger dieser Klassen zurückgreifen, da erst heuer die ersten Schüler zur Abschluss­prüfung antreten. Die Karriere von Schulabgängern ist nur bedingt ein Hinweis auf die Effizienz eines Schulsystems, da sehr viele Faktoren die weitere berufliche Entwicklung beeinflussen. Unterschiedliche Erfahrungen zeigen, dass Schüler aus reformpädagogisch-orientierten Schulmodellen beim Übertritt in ein konventionelles Schulsystem zu Beginn Umstellungs- und Startschwierigkeiten haben, sich dann aber sehr erfolgreich weiterentwickeln. Ziel der schulischen Begleitung und Unterstützung ist es, das Rüstzeug für eine positive Lebensbewältigung und Lebensgestaltung mitzugeben, was nicht zwangsläufig „Karriere“ bedeuten muss. Wichtig ist, dass junge Menschen etwas für sie Sinnvolles aus ihrem Leben machen und erkennen, was für sie wichtig ist. Die Förderung der Eigenverantwortung und Selbstbestimmung leistet dazu einen wertvollen Beitrag.
Ingeborg Rainalter Rechenmacher
Ingeborg Rainalter Rechenmacher

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