Unter Schutz
Kirche St. Prokulus: „Gläubige“ und „Ungläubige“ scharten sich um Hans Nothdurfter (rechte Bildhälfte)

St. Prokulus bleibt im Gespräch

Publiziert in 44 / 2016 - Erschienen am 7. Dezember 2016
Mit der Tagung des Kulturinstituts wurden neue Versuche gewagt, die Kirche St. Prokulus und ihre Fresken zeitlich und typologisch einzuordnen. Goldrain/Naturns - Die prominente Schar der Wissenschaftler und Interessierten war gerade dabei, sich zu verabschieden. 2 Tage lang hatten sich 12 Referenten mit Vorträgen, Lokalaugenschein, Museums­besuch und Diskussion interdisziplinär mit dem Heiligen aus Verona und seiner „Bleibe“ in Naturns beschäftigt. Heini Koch - mit seiner Frau Maria fachmännischer Betreuer des weltbekannten Kunstdenkmals in Naturns - fasste die Ergebnisse der „wissenschaftlichen Tagung des Südtiroler Kulturinstituts“ auf seine Art zusammen: „Alles ist jetzt offener und trotzdem verflochtener, aber das Geheimnis um St. ­Prokulus bleibt ein Geheimnis.“ Der Frage, ob sie bei kommenden Führungen die berühmten Fresken im Kirchen­inneren jetzt anders erklären und einstufen werden, wurde ausgewichen. Jetzt müsse man erst einmal alles verdauen, meinte Maria Koch, die sich mehrmals mutig in die Diskussion der Wissenschaftler eingemischt hatte. Der für die ­„Naturnser Kulturpatrioten“ so wichtige Ausdruck „älteste Fresken im gesamten deutschen Sprachraum“ tauchte nur einmal auf und war eher ironisch gemeint. Als letzter Referent hatte eben Simon Terzer aus Lana nachgewiesen, dass St. Prokulus als Begräbnisstätte der Herren von Tarant 1365 erstgenannt wurde. Der einzige Historiker im Großaufgebot der Prokulus-Experten konnte zwar nichts zur Datierung der Fresken im Kirchenschiff beitragen, aber er konnte wichtige Daten zu Bau­phasen ab dem Spätmittelalter liefern. Prokulus ist eine Reise wert Die internationale Tagung hatte der Vorsitzende des Kulturinstituts, Georg Mühlberger, eröffnet. Es folgte ein kräftiges Bekenntnis des Naturnser Kulturreferenten Michael Ganthaler zum „wichtigsten Kulturdenkmal nicht nur von Naturns“. Hans Nothdurfter, Südtirols er­fahrenster Archäologe, ließ Thomas Kersting, seinen ehemaligen Grabungshelfer und jetzt Brandenburger Denkmalpfleger, von den ersten Ausgrabungen 1985/86 erzählen. Nothdurfter selbst blickte auf Entdeckung und Forschung zurück und merkte an, den Begriff „älteste Fresken im deutschen Sprachraum“ habe man in den 50er-Jahren dringend gebraucht. Er gab Grabungsmängel und Interpretationsirrtümer zu, sah die Kirche als frühmittelalterliche Eigenkirche eines romanischen Grundherrn, warf neue Fragen auf und meinte: „Wir haben Verantwortung für die Kirche. Wir sollten Zwischenbilanzen erstellen, aber Prokulus soll das Forschungsgeheimnis wahren und weiterhin im Gespräch bleiben.“ Er dankte der Marktgemeinde Naturns für die Mitorganisation der Tagung. Ebenfalls der Marktgemeinde und der Stiftung Sparkasse dankte der Archäologe Günther Kaufmann für die Finanzierung der C14-Untersuchungen. Eine Schlussfolgerung aus seinen Erkenntnissen lautete: Die Existenz eines Friedhofs setzt nicht automatisch die Existenz einer Kirche voraus. Hatte Kaufmann die Chorschranke als Deutungs­element ausgeschlossen, so widerlegte der Bauforscher Martin Mittermair auch die Annahme, wonach eine ursprüngliche „Saalkirche“ um den trapezförmigen, eingezogenen Chor erweitert wurde. Er habe bei seinen Sondierungen keinen Unterbruch zwischen trapezförmigem Chor und Kirchenschiff festgestellt. Damit fiel das Argument, dass die Malereien im Schiff einer jüngeren Bauphase zuzuordnen seien. Zu Gast im Prokulusmuseum Die Tagung wurde am Tatort fortgesetzt, gewissermaßen hautnah beim Bauernheiligen aus Verona. Es gab Gelegenheit zu diskutieren, zu begutachten und zu beweisen. Die Schweizer Archäologie-Koryphäe Hans Rudolf Sennhauser unter­mauerte anschließend im nahen Museum die Einheit zwischen Saal und Chor und stellte St. Prokulus und seinen trapezförmigen, eingezogenen Chor in eine Reihe mit ähnlichen Kirchen in der Ostschweiz. Die Regensburger Denkmalpflegerin Silvia Codreanu Windauer befasste sich mit Eigentumsverhältnissen von Saalkirchen des 7. bis 11. Jahrhunderts im bayerischen Raum. Über Form und Funktion von Land­kirchen südlich der Alpen aus demselben Zeitraum referierte Federico Giacomello. Den Schlusstag moderierte der Züricher Universitätsprofessor Christoph Eggenberger, der 1971 eine Dissertation über „die frühmittelalterlichen Wandmalereien in St. Prokulus zu Naturns“ vorgelegt hatte. Im gleichnamigen Aufsatz stellte er 3 Jahre später „starke Bindungen an die antike Tradition“ fest und datierte die frühmittelalterliche Malerei ins 8. Jahrhundert. Der erste Referent des 2. Tages auf Schloss Goldrain war der Leiter des Bozner Stadtmuseums ­Stefan Demetz, der - so Moderator Eggenberger - in seinem Aufsatz von 2007 „Neues zu einem alten Thema: St. Prokulus in Naturns“ die ganze Problematik zusammengefasst habe. Standpunkte & Vergleiche Demetz hatte sich im genannten Aufsatz auf einen Hinweis von Matthias Exner in der Tagung von 1990 bezogen und damit in Naturnser Kreisen ein Beben ausgelöst. Der Münchner Kunsthistoriker hatte damals behauptet: „Die bildliche Ausstattung dürfte frühestens nachkarolingisch (Ende 9., Anfang 10. Jh.) sein“. In Goldrain hatte Referent Demetz den Auftrag, die „kunsthisto­rische Forschungsgeschichte zu St. Prokulus in Naturns – von der irischen Buchmalerei bis Bad Krozingen“ darzulegen. Er umriss die Standpunkte und kunsthistorischen Interpretationsversuche der letzten 60 Jahre, beginnend bei Herbert Schrades Ver­gleichen mit der frühromanischen Buchmalerei 1958 bis zum Iren Peter Harbison, der 2015 „keine Verbindungen zur Kunst seiner Heimat“ erkennen könne. Demetz wiederholte in seinem Referat die 2007 aufgeworfenen Stilvergleiche mit der Glöckelehofkapelle in Bad Krozingen (Breisgau). Er machte aufmerksam, dass in Naturns der „Felderstil“ der Karolinger fehle und die schwebenden Figuren von Prokulus mit denen der byzantinischen Kunst in Beziehung zu setzen seien. In ähnliche Kerben - er nannte es „erneute Bilanzierung“ - schlug Matthias Exner mit „St. Prokulus im Kontext der Denkmäler frühmittelalterlicher Wandmalerei“. Die Rankenmalerei in der Fensterlaibung könne man am ehesten mit ähnlichen Motiven in der Kirche San Satiro, Mailand, aus dem 9. Jahrhundert ver­gleichen. Für die Kunstgeschichte würde eine Datierung der Fresken ins 10. Jahrhundert passen. „Die Streuzeit“ der C14-Proben würden dies zulassen. Der Experte für frühmittelalterliche Buchmalerei, Fabrizio Crivello aus Turin, stellte stark archaisierende Tendenzen fest, lehnte die insulare Buchmalerei (Irland) ebenfalls ab, hielt aber Einflüsse der kontinentalen des späten 9. Jahrhunderts durchaus für möglich. Prokulus oder Paulus? Nicht an der Datierungsfrage beteiligte sich der Kunsthistoriker und zur Zeit des Prokulus-Jubiläums 2012 Südtirols oberster Denkmalpfleger Leo Andergassen. Mit dem Referat „Forma pietatis. Die gotische Wandmalereiaus­stattung zwischen adeligem Selbstverständnis und ikonographischer Innovation“ griff er die Stifterfrage auf und suchte souverän und brillant Parallelen für das Wirken der in Prokulus aktiven Meraner Malergruppe. Er fand Hinweise in Graubünden, im Oberen Vinschgau, im Oberinntal und natürlich im Burggrafenamt. Er sehe sein Referat als Chance, von den Emotionen herunterzukommen, die sich über die frühmittelalterlichen Fresken angestaut hätten. In der anschließenden Diskussion geriet der berühmte „Schaukler“ in den Fokus. St. Prokulus‘ Flucht über die Stadtmauer von Verona wurde angezweifelt. Als Bischof müsste er eine Mitra tragen. Es gab durchaus Befürworter und Argumente für die „Paulus-Variante“. Es tauchte wieder die Holzkirche als Vorgängerbau auf. Man fragte sich auch, ob es nicht doch 2 Bauphasen gegeben habe, und bedauerte, dass die Ergebnisse der Pollenanalyse nicht vorlagen. Günther Schöpf
Günther Schöpf
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