Vom Giro d'Italia überrollt
Publiziert in 10 / 2005 - Erschienen am 26. Mai 2005
Für die Sportler- und Radwelt ist die Durchfahrt des farbenfrohen Girotrosses stets eine kleine Sensation, für den Rest der Bevölkerung zwischen Töll, Prad und Trafoi mehr Einschränkung und Hindernis. Ein Girotag.
Von Andrea Kuntner
6.00 - 7.00 Uhr: Die Profiradrennfahrer schälen sich aus ihren Betten, frühstücken und fahren sich warm. Manch einer wird noch vom Masseur durchgeknetet. Im Vinschgau ist es noch ruhig. Der Hochnebel drückt ins Tal. Am Stilfser Joch kriecht er von der Franzenshöhe Richtung Pass, darüber ebenfalls bedeckter Himmel. Wenige Momente kann sich die Sonne in den Nebelfetzen durchsetzen und wirft Streifen auf das Gelände.
9.00 Uhr: Auf Vinschgaus Straßen werden die Vorbereitungen für die Durchfahrt des 88. Giro d’Italia und seines Anhangs von insgesamt über 100 Fahrzeugen getroffen. Das Regierungskommissariat in Bozen hat die Schließung der Staatsstraße zwei Stunden vor der Durchfahrt verfügt, das heißt für die Töll um 11 Uhr, für Schlanders um 12 Uhr und Prad um 13 Uhr. Sperre bedeutet, dass es bereits Probleme beim Überqueren der Straße gibt. Ein Großaufgebot an Exekutive überwacht die Sperre. Seit Samstag Nachmittag ist die Stilfser-Joch-Straße von ihrem Winterkleid befreit, aber für den Publikumsverkehr immer noch geschlossen. Die Lawinenkommission unter dem Vorsitz des Bürgermeisters Josef Hofer hat sich die Entscheidung nicht leicht gemacht. Am Samstag Vormittag wurden noch letzte Lawinen kurz vor der Passhöhe quasi per Hand losgelöst. Trotzdem kann die Straße erst ab Mittwoch - soweit das Wetter mitspielt - für den gesamten Verkehr geöffnet werden. Seit Ostern hat der Straßendienst Vinschgau gemeinsam mit einem Tiefbauunternehmen die Straße extra für den Giro auf Vordermann gebracht: Sie wurde an einem Punkt verbreitert, der Belag erneuert und die Hänge von einer Spezialfirma aus Bozen auf lockere Steine kontrolliert.
10.55 Uhr: Nun startet der Girotross in Neumarkt seine 14. Etappe. Sie führt über Kaltern, Eppan, Terlan und den Tschögglberg nach Meran und in den Vinschgau. Bei Prad biegt die Radlertruppe nach links ab, fährt über Gomagoi nach Trafoi und setzt dann zum schwierigsten Abschnitt des gesamten Giro mit einer Gesamtlänge von 24 km, einer Steigung von bis zu 10 Prozent an: das Stilfser Joch. Von dort brettern die Fahrer hinab nach Bormio und über den Foscagnopass nach Livigno. Das letzte Mal ist der Giro 1994 übers Joch geradelt. Zu oft war das Wetter unberechenbar, so häufig musste die Strecke kurzfristig geändert werden. Auch heuer stand es auf Messers Schneide, ob das 2.758 Meter hohe Joch angefahren wird. Ausweichstrecke waren das Münstertal und der Ofenpass. Aber das Südtiroler Wetter zeigt sich von seiner besten Seite: Der Hochnebel lichtet sich und die Sonne lugt hervor.
11 Uhr: Die Straße zum Stilfer Joch wird von Gomagoi bzw. Trafoi aus abgeriegelt. Kein Verkehr darf den Giro vier Stunden vor seiner Ankunft stören. Ebensolche Order gilt am Stilfser Joch in umgekehrter Richtung. Am Morgen wurden Radfahrer von der Südtiroler Seite aus am Stilfser Joch bestraft, da sie sich nicht an das Fahrverbot gehalten hatten. Zahlreiche Menschen erklimmen zu Fuß das Joch. Gegen Mittag steigt der Druck der Zuschauer dort oben so enorm, dass sie Richtung Trafoi absteigen bzw. -fahren dürfen. Zum Glück. Man stelle sich den anspruchsvollsten Abschnitt der Etappe ohne Zuschauer und Fans am Straßenrand vor, ohne Zurufe und Applause für die Fahrer.
12 Uhr: Das Wetter spielt verrückt. Mal Graupelschauer, mal Sonnenschein, mal Wind. Ebenso ist die Stimmung unter den Wirtschaftstreibenden am Stilfser Joch. Ärger über die strenge Handhabe der Öffnung des Joches: Nur der Girotross wird durchgelassen, dann wird das Stilfser Joch wiederum für den Verkehr gesperrt. Das Überleben werde ihnen schwer gemacht, so der Tenor. Die meisten Zuschauer - manche zu Fuß, mit dem Rad, mit dem Auto - kommen aus Sondrio oder über den Umbrailpass, für den seit zwei Tagen die Wintersperre aufgehoben wurde. Die Einfahrschneise für die Radfahrer wird errichtet, Werbetransparente aufgeklebt.
13 Uhr: Kleine Schneemassen fallen auf die Straße, werden von den Mitarbeitern des Straßendienstes mit einem Bagger sofort weggeräumt. Hat die rigide Verkehrsordnung doch ihren Sinn? Die Zahl der Zuschauer steigt stetig an, aber Menschenmassen bleiben aus. Die Lautsprecheranlage, mitten auf der Passhöhe postiert, wirbt trällernd um Käufer für Girotrikots und andere Artikel. Irgendwann verschwindet sie.
14 Uhr: Die ersten Fahrer passieren Schlanders. Sie treten mit durchschnittlich 30 km/h vorwärts. Nichts Neues am Stilfser Joch, außer dem immer stärker werdenden Duft nach Bratwurst.
15 Uhr: Der Höhepunkt des Tages rückt immer näher. Die ersten Fahrer sind bereits in Trafoi. Hubschrauberlärm wird jetzt auch am Stilfser Joch hörbar. Insgesamt sind es drei, die das Renngeschehen für die fernen Zuseher aufnehmen. Vier Grad kalt ist es, der Wind bläst in Böen, die Sonne zieht sich zurück. Die Daten kommen frisch aus dem LKW der Luftwaffe, die sich auf der Passhöhe stationiert hat, erstmals bei einem Giro. Die Rai ist mit einem Übertragungswagen, mehreren mobilen Kameras präsent. Omnipräsent ist die Exekutive: Es wimmelt von Polizisten, Carabinieri, Forst- und Finanzbehörden und Dorfpolizisten. Ihnen beistehen die Feuerwehr, Zivilschutzbeauftragte, Bergrettung sowie das Weiße Kreuz.
15.20 Uhr: Das Spitzenfeld um Josè Rujano und Ivan Parra stürmt mit 15 bis 18 Stundenkilometern näher. Sie haben die Franzenshöhe längst hinter sich gelassen, klettern nun die Haarnadelkurven 10, 9, 8 usw. immer höher hinauf. In die Zuschauermenge kommt Bewegung. Ob die Spitzenfahrer die kalte Jochluft, die ihnen entgegen bläst, spüren? Was denken sie am höchsten Punkt dieser Königsetappe, während ihnen - zum Teil wortwörtlich - die Zunge heraushängt?
15.25 Uhr: Die ersten vier Fahrer treffen ein, werden begeistert begrüßt, bejubelt. Die ganze Straßensperre hat nichts genützt, die Fans sind nicht aufzuhalten, befinden sich zum Teil mitten auf der Fahrbahn, die Rennfahrer müssen ihnen ausweichen.
15.35 - 15.45 Uhr: Zwischen den ersten Fahrern und dem Hauptfeld klaffen fünf und mehr wertvolle Minuten. Die nächsten kommen tröpfchenweise. Bei jedem neuen Fahrerfeld geraten die Radsportfans erneut in kurze Rage, schreien, motivieren die Profis, manch’ einen schieben sie gar einige Meter weiter. Der total erschöpfte und körperlich stark angeschlagene Champion des bisherigen Giros, Ivan Basso, hat am Joch sogar eine Minute Pause eingelegt, um sich eine Jacke überzuwerfen. Er hat die Kälte gespürt.
16.05 Uhr: Der letzte Giroteilnehmer passiert die 2.758-m-Marke. Was er sich wünscht, kann man leicht nachvollziehen, hält er sich doch am Seitenspiegel des begleitenden Servicewagens einige Sekunden länger als notwendig fest. Der Rest des Trosses ist längst in Bormio angelangt, sprintet zum nächsten Aufstieg.
16.15 Uhr: Das Stilfser Joch ist binnen weniger Minuten wie leer gefegt. Alle stürmen talwärts. Oben bleiben der kalte Wind, relativ wenig herumliegender Müll und eine sauber gefegte, aber leider unpassierbare Straße. Nun zeigt sich die Sonne wieder, so als ob sie froh wäre, dass das Spektakel vorbei ist.
Am 29. Mai endet der Giro in Mailand. Für den Vinschgau und Radsportfans war der 22. Mai 2005 ein aufregenden Tag, für viele ein Tag voller Hindernisse und Einschränkungen, war der Verkehr durch den Vinschgau doch über Stunden lahm gelegt. Für manchen Vinschger eine willkommene Abwechslung in der Sonntagnachmittags-Gestaltung.
Für die Tourismustreibenden ist der Giro, auch wenn er nur durchrast, eine immense Gratiswerbung. Der Vinschgau und der Gipfel für Radsportbegeisterte, das Stilfser Joch, werden über zwei Stunde lang in den Fernsehübertragungen - nicht nur in italienischer Sprache - gezeigt und genannt. Die Vielzahl von Nennungen in Zeitungen und Zeitschriften, bei Sportberichten im Rundfunk und Fernsehen in ganz Europa und darüber hinaus hat einen unschätzbaren Wert. Mitarbeiter des Tourismusvereins Ortlergebiet versuchten mit den Organisatoren des Giro Kontakt aufzunehmen um die eine oder andere Veranstaltung oder Werbemaßnahme mit einzubauen. Irrtum.
In Prad sind viele Gastbetriebe an diesem Tag ausgebucht, genauso in Trafoi zumindest jene, die an diesem Tag geöffnet haben.
Bei soviel Gewinn ohne Aufwand darf man nicht meckern.

Andrea Kuntner