“Wochenendsaufen”
Publiziert in 12 / 2004 - Erschienen am 20. Juni 2004
[K] Insgesamt 240 Vinschger Ober- und Berufsschüler hat Angela Giungaio über ihr Verhalten dem Alkohol gegenüber befragt. In ihrer Diplomarbeit, eingereicht bei Professor Carlo Buzzi an der Fakultät für Soziologie in Trient, hat Giungaio die Daten erläutert. Für den “Vinschger” hat die junge Forscherin einige Ergebnisse zusammengefasst.
von Angela Giungaio [/K]
Dass Alkohol schädlich ist, und dass ein problematischer Alkoholkonsum im Vinschgau sehr verbreitet ist, ist so gut wie jedem bekannt. Dass sich auf Wiesenfesten und Bällen vor allem Jugendliche betrinken, können alle sehen; und doch wird dieses Problem meist mit einem Lächeln und einem oberflächlichen (und meist dummen) Kommentar kritisiert. Gründe für dieses Verhalten und eventuelle Folgen werden nur selten durchdacht.
Ich will nicht die gegenwärtigen Präventionsprogramme kritisieren oder die Substanz Alkohol dämonisieren und noch weniger alle Jugendlichen im Vinschgau als alkoholabhängig abstempeln. Dass die Situation im Vinschgau nicht rosig aussieht, hatte ich erwartet, aber auf solche Ergebnisse zu stoßen hätte ich nicht gedacht. Einige Daten haben auch mich erschreckt, obwohl ich mich selbst, als fünfundzwanzig-jährige, auch noch zu den Jugendlichen zähle.
[F] Alkohol mit zwölf Jahren [/F]
Den gesammelten Daten lassen sich einige neue Tendenzen im Alkoholkonsum Jugendlicher im Vinschgau entnehmen, eine der wichtigsten ist die deutliche Senkung des Alters des ersten relevanten Alkoholkonsums. Jugendliche beginnen durchschnittlich mit elf bis zwölf Jahren Alkohol zu konsumieren, in einigen extremen Fällen jedoch schon mit acht Jahren (10% der Befragten haben mit weniger als zehn Jahren begonnen Alkohol zu konsumieren). Der Konsum ist zudem angestiegen und Exzesse sind häufiger geworden.
Das Alter des Erstkonsums der Substanz Alkohol ist im Vinschgau niedriger als auf nationaler und europäischer Ebene und zwölfjährige konsumieren in 44,7% der Fälle schon Alkohol (während es auf nationaler Ebene im selben Alter 4,5% sind!!) Eine weitere Tendenz unter Jugendlichen ist die immer häufigere Ausübung des "binge drinking", das heißt, Jugendliche erstreben viel direkter als früher einen Rauschzustand, welcher nicht mehr als eine unerwünschte Folge des Alkoholkonsums angesehen wird, sondern als ein erwünschtes und anzustrebendes Ziel.
[F] Bis zum Umfallen [/F]
Am ehesten lässt sich "binge drinking" mit dem Ausdruck "Wochenendsaufen" übersetzen. Weiters werden meist nur die positiven Auswirkungen eines massiven Alkoholkonsums gesehen, starke Alkoholkonsumenten werden häufig von anderen Jugendlichen beneidet und als Modelle angesehen. Von negativen Folgen fühlen sich Jugendliche nicht bedroht. Weiters betrinken sich Jugendliche heute anders als früher – gefährlicher, junge Leute, die bis zum Abschalten jeglicher Abwehrreflexe trinken, werden immer mehr. Auch auf Festen und Bällen sieht man immer jüngere Alkoholleichen. Laut den Ergebnissen der Fragebögen haben sich 32% der Befragten (mit 16 Jahren!) schon mehr als zwanzig Mal betrunken und 28% im letzten Jahr zumindest zehn Mal. Auch die Stärke der Trunkenheitszustände wurde geschätzt, auf einer Skala von eins (nur etwas angeheitert) bis zehn (schwer betrunken), war unter Buben acht der meistgewählte Wert, unter Mädchen fünf.
Zudem wird Alkohol immer öfter mit anderen Substanzen, wie zum Beispiel Ecstasy gemixt, um deren Wirkung zu beschleunigen und zu steigern.
Drei Viertel der 240 Befragten lassen sich in die Gruppe der starken Konsumenten einstufen, diese trinken zumindest zwei Mal wöchentlich mindestens zwei verschiedene Arten von Alkoholika (am häufigsten Bier und hochprozentige Alkoholika). Auch der Alkoholkonsum unter Mädchen hat in den letzten Jahren zugenommen (in den letzten 6 Jahren um 130% auf nationaler Ebene). Mädchen, von Natur aus eher «bierfeindlich», konnten mit den so genannten Alcopops auf den Geschmack gebracht werden. Auch unter Mädchen wird das "binge drinking" immer häufiger. In den Rauchgewohnheiten haben Mädchen ebenfalls aufgeholt.
Weiters lassen sich Jugendliche mit Alkoholproblemen quer in allen sozialen Schichten finden, es gibt also nicht mehr bestimmte Randgruppen, welche gefährdet sind. Das Alkoholproblem betrifft alle.
[F] Modedrinks haben es in sich [/F]
Die obgenannten Tendenzen werden durch Werbung und Marktstrategieen, welche auf Jugendliche gerichtet sind, verstärkt. Alkohol wird in der Werbung als positive Substanz präsentiert, welche gute Stimmung und Heiterkeit fördert, gesellig stimmt und soziale Integration erleichtert. Die Globalisierung der Medien und der Märkte beeinflusst die Wahrnehmungen, die Entscheidungen und die Verhaltensweisen der Jugendlichen immer stärker. Viele Jugendliche haben heute mehr Möglichkeiten und finanzielle Mittel, sind aber auch von Vermarktungsstrategien jener Produkte, die potenzielle Schadstoffe sind (wie Alkohol), immer leichter beeinflussbar.
Immer neue Produkte werden auf den Markt gebracht, welche gezielt für jüngste Konsumenten produziert werden und einen nicht zu unterschätzenden Alkoholgehalt aufweisen. Die so genannten "Alkopops" sind Mischgetränke, in denen der Alkoholgeschmack (der den Jüngsten meist nicht schmeckt) durch süße Fruchtsäfte kaschiert wird. Solche Mischgetränke liegen schon bei Halbwüchsigen im Trend. Der Absatz stieg in den letzten Jahren um mehr als 150 Prozent. Es sind Designergetränke die "hip" aussehen. Der Alkohol kann nicht mehr als Getränk wie Whisky oder Wodka identifiziert werden. Auch die Verpackung dieser Getränke widerspiegelt einen jugendlichen Stil, häufig werden sogar Zeichentrickfiguren abgebildet. Jugendliche lassen sich meist passiv von Werbung und Vermarktungsstrategien beeinflussen.
Alle bisher genannten Prädiktoren für den Alkoholkonsum und Alkoholmissbrauch unter Jugendlichen werden übertroffen durch den normativen Einfluss, den die Gleichaltrigengruppe auf das Verhalten und die Einstellungen ausübt.
[F] Die Macht der Gruppe [/F]
Die Zugehörigkeit zu einer Gruppe, in der der überwiegende Teil der Mitglieder häufig und extensiv Alkohol konsumiert, führt dazu, dass das Individuum selbst ebenfalls zu diesem Verhalten neigt. Dies hat sich als einer der stärksten Faktoren, welche auf einen problematischen Alkoholkonsum Einfluss ausüben, erwiesen. Die Gruppe der Gleichaltrigen (engl. “peers”) übt einen starken Druck auf den Einzelnen aus, dieser Gruppenzwang bringt manche Jugendliche, die selbst nicht Alkohol konsumieren möchten, mit dieser Substanz in Kontakt, Jugendliche sind in einigen Fällen zu schwach, sich dem Gruppenzwang zu entziehen.
Zu häufig wird ein Alkoholkonsum im Jugendalter als vorübergehend angesehen und für ein "normales" Bedürfnis, im Freundeskreis akzeptiert zu werden, gehalten.
[F] Schwache Kontrolle in Familie [/F]
Zudem hat sich erwiesen, dass die Familien im Vinschgau eine sehr schwache Kontrolle auf ihre Töchter/Söhne ausüben und häufig den massiven Alkoholkonsum ihrer Kinder nicht erkennen, viele Eltern wissen nicht, dass ihr Sohn/Tochter sich schon mehrmals betrunken hat. Diese schwache elterliche Kontrolle erwies sich in meiner Arbeit als ein starker Einfluss auf den hohen Alkoholkonsum. Wissen Jugendliche, dass Alkoholkonsum von ihren Eltern verurteilt wird, trinken sie weniger exzessiv. Bei meiner Umfrage hat sich aber herausgestellt, dass 19% der Befragten schon öfters betrunken nach Hause gekommen ist, aber deshalb nie von den Eltern zurechtgewiesen worden sind.
Eine Weitere Frage ist jene der Kosten. Alkohol kostet Geld. Jedes Wochenende geben sämtliche Jugendliche Unmengen von Euros für Alkoholkonsum aus.
Alkohol als sozial wirksame Droge ist in allen Ländern und Kulturen ein integraler Bestandteil von Geselligkeit und Zusammengehörigkeit bei den Erwachsenen. Dieses kulturelle Vorbild wird von den Jugendlichen in deren Gruppierungen nachgeahmt. Auch werden die positiven Aspekte des Alkoholkonsums unterstrichen, während negative Folgen unterschätzt werden.
[F] Negative Folgen unterschätzt [/F]
Jugendliche fühlen sich von den negativen Folgen eines massiven Alkoholkonsums nicht betroffen und gefährdet; als Risikogruppe werden meist Männer im Alter von 50-60 Jahren angesehen. Es gibt viele Beispiele eines zu sorglosen Umganges mit Alkohol, welcher sehr gefährlich ist, wenn man bedenkt, dass sich viele Jugendliche trotz eines hohen Alkoholkonsums an das Steuer oder auf einen Scooter setzen. Jugendliche glauben, ihr Körper könne sich von häufigen Alkoholexzessen erholen, wissen aber nicht, dass in ihrem Alter ein massiver Alkoholkonsum viele gravierende Folgen haben kann, da ihr Körper enzymatisch nicht vollständig ausgereift ist. Zudem beweisen zahlreiche Recherchen, dass ein früher Kontakt zu Alkohol die Wahrscheinlichkeit einer späteren Sucht enorm steigert. Sicher gibt es nicht viele Jugendliche, welche alkoholabhängig sind (Südtirol hat jedoch, im Vergleich zu nationalen Daten, die höchste Zahl an Jugendlichen bis 29 Jahren, welche in Behandlung sind oder waren). Aber man muss nicht abhängig sein, um ein Alkoholproblem zu haben. Und diese Tatsache ist den Jugendlichen, aber auch vielen Erwachsenen nicht bewusst.
[F] Gibt es eine Lösung? [/F]
Da ein problematischer Umgang mit der Substanz Alkohol ein multifaktorielles Problem ist, ist ein Zusammenarbeiten der verschiedenen Sozialisationsagenturen unbedingt notwendig, um die Trinkkultur der Jugendlichen zu verändern.
Präventionsprogramme sind am günstigsten in den Schulen zu implementieren, wo der überwiegende Teil der Kinder und Jugendlichen erreicht werden kann. Hierzu stehen zahlreiche Modelle zur Verfügung, die zur Zeit jedoch nur unsystematisch eingesetzt werden. Eine weitere Idee in der Prävention könnte die "peer education", die Erziehung unter Gleichaltrigen sei. Da der Freundeskreis den stärksten Einfluss auf den Einzelnen ausübt, wäre es sicher von Vorteil, in dieser Gruppe positive Modelle zu schaffen, welche auch ohne massiven Alkoholkonsum gut integriert sind.
Auch eine alternative Kultur des Feierns müsste gefördert werden. Zu häufig sieht man auf Wiesenfesten und Bällen Jugendliche, die bis zum Umfallen trinken. Weiters werden häufig die Folgen eines starken Alkoholkonsums bekämpft, nicht der Alkoholkonsum selbst, Unfälle werden zum Beispiel durch Busse oder Taxis verringert. In vielen Fällen gibt dies den Jugendlichen aber die Möglichkeit weiterzutrinken und sollte deshalb nicht als eine Alkoholprävention angesehen werden.
[F] Einige Fakten [/F]
56,7% der Buben und 31,7% der Mädchen mit 16 Jahren konsumieren regelmäßig viel Alkohol
34% der Buben und 21,3% der Mädchen haben erklärt, am Vortag der Befragung Bier konsumiert zu haben; 7,5% der Befragten haben am Vortag hochprozentige Alkoholika konsumiert.
24 der 240 Befragten erklären, schon vor dem zehnten Lebensjahr Alkohol konsumiert zu haben
Mehr als 60% der Befragten haben schon mehrmals eine Drogenszene gesehen
Drei Viertel der Befragten sind schon einmal mit Haschisch oder Marihuana in Berührung gekommen
Im Jahr 2002 wurden im Vinschgau 183 Führerscheine entzogen (Italiens höchster Wert), einige Fahrer überschritten den erlaubten Alkoholgehalt im Blut (0.5 Promille) um das Vierfache
Im Jahr 2002 wurden in Südtirol 208 Jugendliche unter dem 29. Lebensjahr wegen Alkoholvergiftung in Krankenhäuser eingeliefert