„Das halbe Leben am Gletscher“
Otto Angerer aus Stilfs erzählt
Otto Angerer, Martin Sölva und Oswald Ortler (v.l.) bei einer Bergtour.
Im Bild (v.l.): Hermann Mazagg, Oswald Ortler und Otto Angerer mit den eingesackten Überresten eines österreichischen Soldaten, der 1990 am Tuckettjoch entdeckt worden ist.
Otto Angerer in seinem Keller in Stilfs, wo er viele Kriegsrelikte aufbewahrt, die er auf dem Stilfser Joch gesammelt hat.
Diese zwei Fotos vermitteln einen Eindruck der gewaltigen Schneemassen, wie sie in früheren Zeiten im Sommerskigebiet am Stilfser Joch zum Alltag gehörten. Im Bild oben sind Otto Angerer (Fahrer der Schubmaschine) und drei Mitarbeiter zu sehen. 
Diese zwei Fotos vermitteln einen Eindruck der gewaltigen Schneemassen, wie sie in früheren Zeiten im Sommerskigebiet am Stilfser Joch zum Alltag gehörten. Im Bild oben sind Otto Angerer (Fahrer der Schubmaschine) und drei Mitarbeiter zu sehen. 

Zwischen Skiliften und Kriegsrelikten

Erst Hirte, dann Maurer und schließlich über 30 Jahre lang Betriebsleiter im Sommerskigebiet am Stilfser Gletscher.

Publiziert in 20 / 2022 - Erschienen am 8. November 2022

Stilfs - „Auf diesem Foto sieht man gut, wie viel Schnee es damals am Stilfser Joch gab. Die Stützen der Skilifte steckten bis zu 7 Meter tief im Schnee. Wir mussten sie nach jedem Winter ausgraben, mit Hubzügen anheben und neu befestigen, damit die Gäste im Sommer Skifahren konnten.“ Zu jedem der Fotos, die er in seiner Stube in Stilfs auf den Tisch blättert, kann Otto Angerer eine Geschichte erzählen. Die Bilder öffnen die Türen zur Vergangenheit und schlagen auch Brücken zu Zeiten, von denen es keine Fotos gibt, die aber im Kopf von Otto Angerer noch sehr lebendig sind. So zum Beispiel die Zeit der Option. „Die Leute saßen zusammen und haben viel geredet. Die einen wollten hinaus zum Adolf, die anderen wollten nicht gehen“, erinnert sich der 89-Jährige. Man habe den Leuten viel versprochen. „Weggegangen sind vor allem arme Familien. Hier in Stilfs gab es damals kaum Arbeit.“ War das Dorf nach der Option nicht irgendwie menschenleer? Otto: „Ja, und heute ist es wieder leer.“ Die Zeiten der kinderreichen Familien seien längst vorbei. Die meisten Optanten zogen nach Nordtirol und nach Vorarlberg. „Zurückgekommen ist niemand. Ich jedenfalls kenne keine Rückkehrer.“

„I bleib, wou i bin“

Peter Angerer, der Vater von Otto, hat die Heimat nicht verlassen. Er habe gesagt: „I bleib, wo i bin.“ Beruflich war Peter vor allem Hirte. 7 Sommer lang hütete er das Vieh auf Rasass in der Gemeinde Sent im Unterengadin. Seit über 400 Jahren treiben die Malser ihr Galtvieh jährlich über die Grenze in die Schweiz. 1943 nahm Peter Angerer seinen damals 9-jährigen Sohn Otto zum ersten Mal mit auf die Alm. Otto: „Wir packten ein paar Kleidungsstücke in einen selbstgenähten Rucksack, gingen zu Fuß von Stilfs nach Mals und dann von dort zusammen mit dem Vieh auf die Alm. „Zurück ging es erst wieder im September und zunächst nur bis Mals. Erst im November gingen wir dann weiter bis nach Stilfs.“ Ein Zuckerschlecken waren diese Almsommer nicht. „Ich weiß noch gut, wie ich das Holz zum Feuermachen über die Uina-Schlucht auf die Alm getragen habe“, erinnert sich Otto. Die Kindheit und ersten Jugendjahre in Stilfs waren entbehrungsreich und vom Faschismus geprägt. Wie seine Altersgenossen musste auch Otto, geboren am 19. Oktober 1933, den italienischen Kindergarten und die italienische Volksschule besuchen. Während der Kriegszeit habe er manchmal im Haus eines Nachbarn Radio gehört: „Das war eigentlich verboten. Gehört hat man nur Propaganda aus Deutschland.“

Ein bis zwei Kühe und ein paar Ziegen

Groß war die Bauerschaft der Familie Angerer nicht. Das Vieh - es waren in der Regel ein bis zwei Kühe, ein paar Ziegen und ein Schwein - versorgte in der Regel Aloisia Angerer, die Mutter von Otto. Von seinen 4 Brüdern ist nur noch Hermann, geboren 1931, am Leben. Er ist schon vor langer Zeit nach Deutschland ausgewandert. Nach dem Krieg verbrachte Otto zusammen mit seinem Vater mehrere Sommer auf verschiedenen Almen im Engadin. 1953 wurde er zum italienischen Wehrdienst einberufen. Die Ausbildung absolvierte er in Verona. Den Großteil der 18 Pflichtmonate verbrachte er in der Kaserne in Glurns bei der sogenannten „Frontiera“, die mit der Überwachung der Bunkeranlagen am Reschen beauftragt war.

Erst Maurer, dann hinauf auf den Gletscher

Nach dem Militärdienst war Otto für einige Jahre als Maurer in Stilfs beschäftigt. 1963 fasste er dann die Entscheidung, im Sommerskigebiet am Stilfser Joch zu arbeiten. Ganze 31 Jahre lang stand er als Betriebsleiter der Skilifte im Einsatz. „Ich habe das halbe Leben auf dem Gletscher verbracht“, blickt Otto zurück. Unter welchen Bedingungen und Umständen damals gearbeitet werden musste, um das Skigebiet für den Sommerskilauf in Schuss zu bringen, kann man sich heute kaum vorstellen: „Die Liftgesellschaft Sifas wurde damals erst gegründet. In der Anfangszeit gab es nur einen Korblift.  Von einer Schneekatze war weit und breit keine Spur.“ Was zur damaligen Zeit im Gegensatz zu heute aber nicht fehlte, war der Schnee. Die Stützen der Lifte wurden während der Wintermonate fast vollständig eingeschneit. Otto: „Manchmal ragten nur mehr die Spitzen der über 8 Meter hohen Stützen aus dem Schnee.“ Die Stützen mussten freigelegt, mit Hubzügen angehoben und neu verankert werden. Die „goldenen Zeiten“ erlebte das Sommerskigebiet in den 1970er und 1980er Jahren. „Damals waren es vor allem Gäste und Skibegeisterte aus nah und fern, die im Sommer auf das Stilfser Joch kamen“, erinnert sich Otto. Später nutzten vermehrt Trainingsmannschaften die Pisten, während die Zahl der klassischen Sommerskigäste zunehmend sank. Bis zu 15 Mitarbeiter hatte der Betriebsleiter während der Glanzzeiten des Sommerskilaufs zu beaufsichtigen. 

Relikte der Kriegsfront

Während der vielen Arbeitsjahre am Stilfser Gletscher stieß Otto auch oft auf Relikte aus der Zeit des Ersten Weltkrieges. Die Kriegsfront verlief über das Stilfser Joch. Besonders tief in das Gedächtnis eingebrannt hat sich ein Fund, den er im September 1990 bei einer Bergtour am Tuckettjoch machte. Er entdeckte in einer der einstigen Kriegsbaracken die vereisten Überreste eines österreichischen Soldaten. Das Skelett des Toten, der nicht identifiziert werden konnte, wurde geborgen und zu Tal gebracht. Ein weiterer Kaiserjäger aus Österreich war bei Arbeiten bei den Livrio-Hütten zum Vorschein gekommen. Der Soldat konnte später identifiziert werden, weil man in seiner Uniformjacke einen Brief fand, den ihm seine Mutter aus Inzing in Tirol geschrieben hatte. „Der Brief war völlig unversehrt und gut leserlich“, erinnert sich Otto. Zu den unvergesslichen Ereignissen gehört auch der tragische Tod zweier junger Bergsteiger aus Österreich. Sie verloren im Bereich des sogenannten Minotti-Biwaks bei der Explosion zweier Kübel, die Sprengstoff (Nitroglycerin) enthielten, das Leben. Otto hatte die zwei jungen Burschen bereits vor dem Unglück mit dem Fernglas gesichtet: „Die Explosion war gewaltig, man hörte sie hinunter bis Prad und darüber hinaus.“ Als er zusammen mit einem Begleiter am Ort des Geschehens eintraf, bot sich ein Bild des Grauens: „Im Umkreis von rund 300 Metern fanden wir Leichenteile.“ Damals waren viele Leute im Bereich des einstigen Frontabschnittes unterwegs, um Kriegsrelikte zu sammeln. Otto Angerer hat im Laufe der Jahre ebenfalls viele Relikte gefunden, darunter zwei Granaten, die über 80 Kilogramm schwer sind, einen Ofen aus Gusseisen, den er an der Schneeglocke entdeckt hatte, Soldatenhelme und viele weitere Relikte, die er in seinem Keller in Stilfs aufbewahrt.

„Nicht einen Tag krank gewesen“

Die Berge im Umkreis des Stilfser Gletschers kannte und kennt Otto Angerer natürlich wie seine Westentasche. Ein bisschen stolz ist er auf die Tour, die er im Alter von 59 Jahren zusammen mit Martin Sölva und Oswald Ortler unternahm. Das Trio bewältigte in 17 Stunden die Trafoier Eiswand, den Beckmanngrat und die Thurwieser Spitze. Viel zu erzählen weiß Otto auch von Spaltenrettungen und anderen Einsätzen, an denen er beteiligt war. Dass er während seiner 31-jährigen Tätigkeit am Gletscher nicht einen einzigen Tag krank gewesen ist, erwähnt er nur nebenbei. Er kommt immer noch ohne Gehstock aus. Das freut ihn sehr. Viel Zeit verbringt Otto schon seit Jahren in seinem kleinen Garten, vor allem seit dem Tod seiner Frau Paula, die im Dezember 2018 gestorben ist. 4 Kinder haben Otto und Paula großgezogen. Wie alle Menschen seines Alters hat auch Otto einen ungewöhnlichen Zeitenwandel mit einschneidenden Veränderungen erlebt und einen Erinnerungs- und Erfahrungsschatz gesammelt, den er nicht ungern mit anderen teilt.

Josef Laner
Josef Laner

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