„Die Impfung ist ein Segen“
Hoffen auf baldige Massenimpfungen
Hansjörg Gluderer: „Mit eingefleischten Impfgegnern lasse ich mich erst gar nicht auf Diskussionen ein. Das ist zwecklos und verlorene Zeit.“

Zwischen Testen, Aufklären und Zuhören

Der Gemeindearzt Hansjörg Gluderer spricht über die Corona-Pandemie, den Zickzackkurs der Politik, über Fehler der Vergangenheit, die Hoffnung auf baldige Massenimpfungen und über das, was uns in den nächsten Jahren erwartet.

Publiziert in 7-8 / 2021 - Erschienen am 4. März 2021

Schlanders - „Ja, du kannst morgen um 7.30 Uhr vorbeikommen und ich werde dich testen.“ Das war für den Schlanderser Gemeindearzt Hansjörg Gluderer das letzte unzähliger Telefonate, die er am 23. Februar in seiner Praxis führte. Kurz nach Dienstschluss nimmt er die Maske ab, atmet ein paar Mal tief durch, holt einen Kaffee und setzt sich hin.

der Vinschger: Warum hatte es der Mann am Telefon mit dem Antigen-Test so eilig?

Hansjörg Gluderer: Er ist ein Lkw-Fahrer und muss morgen nach Deutschland. Ohne negativen Test kommt er nicht über die Grenze. Sich in Mals testen lassen wird noch schwieriger, denn Mals ist ab morgen (24. Februar, Anmerkung der Redaktion) Corona-Sperrgebiet.

Es gibt aber auch in Schlanders eine Teststation vor dem GEOS-Lager im Holzbruggweg.

Ich weiß natürlich, dass es diese Teststation gibt, wurde aber vom Sanitätsbetrieb bisher nicht offiziell darüber informiert. Das ist nur ein Beispiel dafür, dass der Informationsfluss zwischen dem Sanitätsbetrieb und den Hausärzten nicht der beste ist. Es hapert auch an der Koordinierung. Das Hygieneamt schickt die Leute in Quarantäne und macht sie teilweise „narrisch“. Ich bin überzeugt, dass wir Hausärzte in Sachen „Contact Tracing“ gute Dienste leisten könnten. Wir kennen unsere Patientinnen und Patienten, wie wissen, mit wem sie zusammenleben und wo sie arbeiten. Wir wären daher imstande, schnell zu handeln. Die meisten Ansteckungen erfolgen ja im familiären und betrieblichen Umfeld.

Was ging Ihnen durch den Kopf, als sie die Schlagzeile „Über 1.000 Corona-Tote in Südtirol“ lasen?

Bei solchen und ähnlichen Zahlen habe ich meine Vorbehalte. Ich möchte auch erfahren, wie alt die Verstorbenen waren, welche Vorerkrankungen sie hatten und in welchen Fällen das Virus sozusagen der letzte Auslöser des Ablebens war. Außerdem möchte ich Vergleiche mit den vergangenen Jahren anstellen können: wie viele Menschen starben in der Vergangenheit an welchen Krankheiten?

Klingt das nicht ein bisschen wie eine Verharmlosung der neuen Viruserkrankung?

Verharmlosen will ich das Virus und seine Folgen keineswegs. Ich weiß, was die Erkrankten in den Intensiv-Stationen durchmachen. Das ist sehr schlimm. Es darf aber nicht vergessen werden, dass es auch weiterhin die vielen anderen Krankheiten gibt.

Manche Leute sagen ganz offen, dass man das Virus einfach frei laufen lassen sollte.

Es gibt sicher Personen, die diese Meinung haben. Das käme dann einem russischen Roulette gleich. Ich bin mir sicher, dass solche Leute ihre Meinung spätestens dann ändern würden, wenn ein Mitglied aus ihrem engen Familienkreis schwer an Corona erkrankt oder gar stirbt.

Wie bewerten Sie die politischen Maßnahmen seit dem Ausbruch der Pandemie?

Dass es in solchen außergewöhnlichen Situationen vor allem für die Politik und die Verantwortlichen im Sanitätsbetrieb schwierig ist, schnell die richtigen Entscheidungen zu treffen, ist allen klar. Wenn ich auf die bisherigen Corona-Maßnahmen zurückblicke, so wurden die verschiedenen Lockdowns verfügt, um immer etwas zu retten. Beim ersten Lockdown ging es darum, das Gesundheitssystem zu retten, nachdem man es in den 10 Jahren zuvor „kranksaniert“ hatte. Später ging es darum, das Weihnachtsgeschäft zu retten und mit dem derzeitigen Lockdown soll das Ostergeschäft gerettet werden. Wir haben es mit einem Zickzackkurs zu tun. Aus meiner Sicht wäre es zielführender gewesen, für 4 Wochen alles komplett zuzusperren. Eine solche Sperre hätte zwar allen weh getan, aber es hätte ein wichtiger Schritt sein können. 

Wie reagieren ältere Menschen, wenn Sie in Ihre Praxis kommen?

Viele haben Angst und wollen wissen, was wirklich los ist und was man noch glauben kann. Viel mehr Sorgen bereiten mir die Seniorinnen und Senioren in den Altersheimen. Nicht wenige gehen in den Heimen buchstäblich zugrunde. Wäre es nach mir gegangen, hätte ich die Heime im Sommer geöffnet. Wir hatten damals speziell im Vinschgau nur einige wenige Infizierte. Die neue Welle erfasste uns erst wieder Hand in Hand mit dem Beginn der Apfelernte. Wir brauchen uns nichts vorzumachen, aber ich höre selbst immer wieder, dass ältere Menschen den Wunsch äußern, endlich „gehen“ zu dürfen. Worunter sie besonders leiden, ist die Einsamkeit. Einsamkeit kann tödlich sein.

Aber auch Kinder und Jugendliche leiden unter den Einschränkungen.

Ich wage zu behaupten, dass den Kindern und der Jugend ein Jahr gestohlen wurde. In der öffentlichen Wahrnehmung und in den Medien ist dieses Thema leider nur wenig präsent. Junge Menschen brauchen soziale Kontakte. Aber wie kann es zu solchen kommen, wenn die Schule fast nur mehr am Computer stattfindet? Die Discos, Pups und andere Strukturen, wo sich junge Menschen normalerweise treffen, sind seit einem Jahr geschlossen. Ich befürchte, dass wir es hier mit teils schweren Folgewirkungen zu tun bekommen werden. Es ist uns noch zu wenig bewusst, wie sich das lange Eingesperrtsein langfristig auf so manche Kinder und Jugendliche auswirken wird. 

Kommen auch Personen zu Ihnen, um sich zum Thema Impfen zu informieren?

Ja, ziemlich viele. Impfaufklärungs-Gespräche gehören seit Wochen und Monaten zum Alltag in der Praxis. Ich habe die Praxis übrigens nie geschlossen. Meine Tür blieb und bleibt immer offen. Die Regeln sind natürlich einzuhalten.

Was raten Sie Ihren Patientinnen und Patienten in punkto Impfung?

Dass sie sich impfen lassen sollen, sobald dies möglich ist. Ich erkläre ihnen auch, dass alle Impfstoffe, die bei uns zugelassen sind, unbedenklich sind. Natürlich können kleine Nebenwirkungen wie Schmerzen an der Einstichstelle, Schwellungen, Rötungen, Müdigkeit oder andere kleine Beschwerden auftreten, aber das kann auch bei allen anderen Impfungen vorkommen. Die Impfung ist ein Segen für Menschheit. Ich bin ein 100-prozentiger Impfbefürworter.

Und was sagen Sie den Impfgegnern?

Mit eingefleischten Impfgegnern lasse ich mich erst gar nicht auf Diskussionen ein. Das ist zwecklos und verlorene Zeit. Ich rate ihnen höchstens, mit Leuten zu reden, die nicht gegen Kinderlähmung geimpft werden konnten und sie zu fragen, wie es ihnen geht.

Wann wird es erste Massenimpfungen im Vinschgau und in ganz Südtirol geben?

Das hängt von der Verfügbarkeit der Impfstoffe ab. Sollten genug Dosen geliefert werden, könnte es ab dem Frühsommer möglich sein, dass sich alle, die es wollen, impfen lassen können.

Wie ist es möglich, dass unser modernes und hochentwickeltes Europa nicht imstande ist, in einer angemessenen Zeit selbst genügend Impfstoffe, Medikamente, Masken, Schutzanzüge und anderes Material herzustellen?

Wie in vielen anderen Bereichen spielt auch hier das Geld die Hauptrolle, genauer gesagt der Gewinn, den große Hersteller und Konzerne dadurch machen, dass sie die Produktion nach China, Indien und in andere Länder auslagern, um Kosten zu sparen. Abgesehen davon, dass in Billigländern oft unter menschenunwürdigen Bedingungen gearbeitet wird, nimmt die Abhängigkeit Europas von anderen Produktionsländern zu.

Ist die sogenannte normale Grippeimpfung irgendwie ein Schutz gegen das neue Virus?

Nein, das eine hat mit dem andern nichts zu tun. Es handelt sich um verschiedene Viren, die wiederum laufend mutieren.

Und warum haben derzeit so wenige Menschen die normale Grippe?

Der Hauptgrund dafür ist, dass wir wegen des Coronavirus die Hände waschen, Masken tragen und Abstand halten. Dadurch schützen wir uns auch vor der Ansteckung mit dem normalen Grippevirus.

Was derzeit vielen Menschen fehlt, sind Perspektiven, klare Ziele und Aussichten Wie schätzen Sie die Gesamtsituation rund um das Infektionsgeschehen derzeit ein und was wird in den nächsten Jahren auf uns zukommen?

Wenn es gelingt, mit den Massenimpfungen möglichst bald zu beginnen und wenn sich mindestens 65 Prozent der Bevölkerung impfen lassen, wäre das der bisher größte Erfolg gegen das Virus und die Mutanten. Das heißt aber nicht, dass der Spuk dann vorbei sein wird. Im Gegenteil, wir werden wohl oder übel lernen müssen, mit dem Virus zu leben. Es wird auch in den nächsten Jahren Massenimpfungen brauchen und die Illusion, bald schon wieder ohne Maske herumlaufen zu können, müssen wir uns abschminken. Aber wir werden sie besiegen, diese Pandemie. Vielleicht ist dieses neuartige Virus die Antwort der Natur auf unsere modernen Verhaltensweisen. Es gibt schon lange nicht mehr abgegrenzte Teil der Erde. Millionen Menschen fliegen von Kontinent zu Kontinent. Und die Viren fliegen mit.

Sind die Ängste und Unsicherheiten vieler Menschen auch in Ihrer Praxis zu spüren?

Ja natürlich. Viele fühlen sich unsicher und können die vielen Zahlen und Informationen, die ihnen täglich rund um die Uhr um die Ohren fliegen, nicht mehr bewältigen und einordnen. Sie sind auch in diesem Sinn überlastet und überfordert.

Ist das eine Kritik an den Medien?

Ja, das ist es. Man sollte die Menschen nicht täglich von früh bis spät mit Todes- und Fallzahlen „füttern“. Das wird mit der Zeit für alle unerträglich und führt zu einer noch größeren Belastung. Darüber, was in den sozialen Netzwerken abläuft, will ich gar nicht reden. Meiner Meinung nach wäre es ausreichend, wenn einmal in der Woche objektiv über alle Fakten und die Entwicklung informiert würde. 

Sie sind seit 1991 Gemeindearzt in Schlanders. Was hat sich in Ihrer Arbeit als Allgemeinmediziner in fast 40 Jahren verändert?

Früher hatten wir mehr Zeit, mit den Patientinnen und Patienten den direkten Kontakt zu pflegen. Das Urbild des Hausarztes, der mit den Leuten redet, sich in sie hineinfühlt, sie abtastet und nicht nur ihre Krankengeschichte kennt, sondern auch ihren Charakter und ihren Familienkreis, hat sich im Lauf der Jahre sehr geändert. Wir sind sozusagen eine „aussterbende Rasse“, vor allem im Vinschgau. Mittlerweile verbringen wir gezwungenermaßen viel Zeit am Computer. Die Bürokratie wird nicht weniger und die Digitalisierung schränkt den menschlichen Aspekt ein. Von Gemeinschaftspraxen halte ich nicht besonders viel, denn auch dort hält eine Art Facharztschema Einzug: der eine ist für das zuständig, der andere für jenes. Wir sind aber keine Fachärzte, wir sind Allgemeinmediziner.

Wie lange werden Sie uns noch als Gemeindearzt erhalten bleiben?

In bin geimpft (lacht) und werde das Jahr 2021 noch voll machen. Dann ist Schluss.

Josef Laner
Josef Laner

Diese Seite verwendet Cookies für funktionale und analytische Zwecke. Lesen Sie unsere Cookie-Richtlinien für weitere Informationen. Durch die Nutzung dieser Website erklären Sie sich damit einverstanden.